: Kampf gegen den Dämon
■ Hauptstar bei der Bremer Reihe über Eßstörungen: Klinik-Gründerin Peggy Claude-Pierre aus Kanada erklärt, wie sie magersüchtige Mädchen heilt. Und: Alle wollen die Geschichte hören, wie sie ihre Töchter mit ausgedachten Tricks zurückgewonnen hat
„Bloß keine Barrieren“, sagt Peggy Claude-Pierre – auch wenn nach ihrem Vortrag im Vegesacker Kito alle auf sie losstürmen. „Das macht nichts. Das ist völlig in Ordnung“, antwortet die Psychologin ruhig auf den Vorschlag des Programm-Organisators. „Ich liebe doch diese Leute“, sagt die Kanadierin über alle, die bei ihr mittlerweile händeringend nach Hilfe suchen.
Denn Peggy Claude-Pierre hat Antworten gefunden. Antworten auf Fragen, an denen Ärzte und Eltern verzweifeln – wie jetzt auch der Bremer Oberarzt Dr. Jürgen Bachmann aus Bremen-Nord. Er wußte nicht mehr weiter mit einer schwer magersüchtigen Patientin. Gemeinsam mit den Eltern griff er deshalb zum letzten Rettungsanker – und lotste Claude-Pierre nach Deutschland. „Ich will nicht, daß das Mädchen stirbt“, erklärt die Kanadierin schlicht ihren jetzigen Bremer Besuch als Endpunkt einer dreiwöchigen Aufklärungstour durch Europa.
Ob Dänemark, Norwegen oder jetzt im Bremer Kito: Überall in Europa waren ihre Vorträge ausverkauft. Alle wollten die Geschichte hören, wie ihre zwei Töchter an Magersucht erkrankten. Wie sie beide rund um die Uhr betreute, sie mit ausgedachten Tricks fütterte und so ihr Leben zurückgewann. Und wie sie daraus ein neues Therapieprogramm entwickelte, um mit dem Aufbau der Montreux-Klinik in Kanada weiter zu kämpfen gegen die dämonenhafte Krankheit: Über 100 Mädchen hat sie mittlerweile geheilt – alles hoffnungslose Fälle, die Spezialkliniken längst aufgegeben hatten.
Irgendwie einen richtigen Schlüssel gefunden habe Peggy Claude-Pierre, versucht der Bremer Oberarzt Dr. Jürgen Bachmann vom Krankenhaus Bremen-Nord eine Erklärung für diesen Erfolg. Überzeugt hat ihn die neue Rund-umbetreuung durch „care worker“, die Tag und Nacht für die Patienten da sind – während andere Kliniken die Mädchen erstmal nur rein „somatisch“ versorgen und erst später mit einer Therapie anfangen. In Kanada dagegen greift therapeutische Hilfe von Anfang an. „Die vorherrschende Meinung ist, die Mädchen müßten es aus eigener Kraft schaffen. Dabei können sie es gar nicht alleine“, erklärt Claude-Pierre ihren neuen Ansatz von „bedingungsloser Zuwendung und Hingabe“.
Immer wieder reden die „care worker“ mit den Mädchen. Und kämpfen so gegen die „negativen Stimmen“, die die Mädchen zurück in den Tod rufen. Im Hang zum „Negativen“, im „Negativismus-Syndrom“, sieht Claude-Pierre nämlich die „eigentliche Krankheit“. Diese Grundhaltung habe sie bei allen PatientInnen entdeckt: „Diese Mädchen reagieren viel sensibler auf ihre Umwelt als andere. Sie fühlen sich sofort verantwortlich für alle Probleme, auch wenn Eltern oder Freunde das gar nicht verlangen“, erklärt die Kanadierin – und sie paßten sich zudem immens an gesellschaftliche Werte an.
Die fatale Folge: Das Gefühl von Unzulänglichkeit und Scheitern angesichts dieser unbewältigbaren Vollkommenheit. Und so die Überzeugung, im Grunde nur das Sterben verdient zu haben. „Wir lehren sie deshalb, wieder zu objektivieren und sorgen durch positive Sätze und ständige Aufmerksamkeit dafür, daß die Negativität keinen Platz mehr hat“, sagt Peggy Claude-Pierre – ein kompletter Crash-Kurs in Lebenshilfe.
„Elementarpsychotherapie“ sagt dazu begeistert der Bremer Oberarzt Jürgen Bachmann. „Bei mir hat es jetzt –klick' gemacht“, sagt der Mediziner, der die „Krankheit bisher nie wirklich verstanden“ hatte. Alle anderen Erklärungsversuche – von Schlankheitswahn bis hin zu ungünstigen Familienkonstellationen – hätten für ihn „irgendwie nie richtig gepaßt“.
Jede Menge Anregung für die Arbeit in der Klinik nimmt er jetzt vom Besuch mit – aber wie viele andere auch „viele, viele Fragen“. Warum ist die Behandlung in Kanada mit 50.000 Dollar pro Monat so teuer? Wie könnten in Deutschland solche Behandlungsmethoden finanzierbar sein? Und kann man diese Krankheit so einfach als negative Grundhaltung beschreiben?
Peggy Claude-Pierre jedenfalls hat darauf nur eine allgemeine Antwort parat: „Ich habe nicht den Anspruch, genial zu sein.“ In jeder anderen Erklärung und in jedem anderen Therapieansatz stecke auch „ein Stück Wahrheit“. Sie mache jetzt einfach weiter, „weil so viele nach Hilfe rufen“. Und veröffentlicht im September ein neues Buch und bald auch eine CD-Rom – „damit alle mein Therapieprogramm erlernen können“. Schließlich kann ihre Klinik aus Kosten- und Platzgründen nicht allen Kindern helfen, die in Not sind. „Aber durch meine Bücher können Betroffene das wichtige Gefühl bekommen: Da ist endlich jemand, der mich versteht .“ kat
Im Verlag „Wolfgang Krüger“ ist „Der Weg zurück ins Leben: Magersucht und Bulimie verstehen und heilen“ von Peggy Claude-Pierre erschienen (38 Mark). Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Eßstörungen“ findet heute um 19.30 Uhr im Schulzentrum Neustadt in der Delmestraße 145 eine Podiumsdiskussion mit Bremer ExpertInnen über Hilfen in Bremen statt.
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