Einfache Leute vom Lande

■ Das Kino 46 zeigte Kurzfilme mit Gitarrenimprovisationen

Eine alte Frau begibt sich in das Abenteuer, das da heißt: Treppesteigen. Die ersten Stufen schleift sie Stufe für Stufe das linke Bein müde dem rechten hinterher. Doch kurz vor Zieleinlauf überfällt sie noch einmal ruckartig eine Erinnerung an jugendlichen Übermut: Ein Schritt, eine Stufe, genauso wie es sich für funktionierende Exemplare der Gattung Mensch ziemt. Mit solchen Detailstudien erforscht die Bremer Kurzfilmregisseurin Barbara Thiel in ihrem 35-min-Film „Fünf Fotos“ das Alter, also jenes halb melancholisch, halb gelassen stimmende Gemenge aus Verlusten und Restfähigkeiten: Auch wenn immer mehr entschwindet, es bleibt doch immer irgendetwas übrig, mit dem sich Lebenszeit füllen läßt. Z. B. Kaninchenzüchten. Oder Gartenarbeit. Und irgendwann der Satz einer Alten: „Ich sehe unser Leben als ein Wunder.“ Selbst der Schlaganfallpatient freut sich abgöttisch, wenn die Ehefrau zum Kaffeetrinken ruft. Doch wenn man dann ein schlaffes Fleischbündel sieht, das früher mal unter der Rubrik „Dachdecker“ eingeordnet wurde, und dann junge Dachdecker, die sich mit der Perfektion von Zirkusjongleuren Ziegel für Ziegel zuwerfen, überwiegt die Trauer.

Barbara Thiel müllt ihre geduldige Studie über fünf sogenannte einfache Leute vom Lande nicht mit biographischen Anekdoten zu. Hauptsächlich zeigt sie das Hier und Jetzt: Rheumaverfremdete Hände, die Spätzleteig durchs Sieb drücken; Nackenhaut, die unter Massagehänden Falten wirft. In den Interludien zwischen den Porträts zeigen Filmstills die ländliche Umwelt: ein Tapetenfetzen hier, ein Mauerstück dort. Die Summe ist ein bemerkenswert bescheidenes Bild von dem, was wir euphorisch Subjekt, Ich, Charakter nennen. Keine großen Dramen, keine großen biografischen Sprünge.

Auch dem Thema Erotik nähert sich Thiel bedingungslos über die Körperlichkeit. Keine Symbolik, keine Accesoires. Acht Minuten lang zeigt Thiel wie Muskel, Fett, Lymphe – grisailleartige in Blau getaucht – sich unter Berührung spannt, wellt, dehnt, bauscht als wäre der Mensch eine Amöbe, die im Urschleim dahingleitet und ihre Form der Umgebung anpaßt. Konturen verschwimmen, klären sich auf, verschwimmen wieder oder entgleiten in einem Meer von Kratzern. Und wenn die Protagonistin (durch Doppelbelichtung) das Kunststück fertig bringt, sich selber küßt – frei nach Woody Allen: „Onanie ist Sex mit einem Menschen, den man sehr sehr lieb hat“ – und die lutschende Zunge wie auf einem Röntgenbild sichtbar bleibt, dann wird Gefühl vollends übersetzt in organisches Zucken. Welche Musik könnte besser dazu passen als die Gitarrenimprovisationen von Hainer Wörmann von der Musiker Initiative Bremen (MIB). Ein Ton steht hier nicht wie eine klare, runde Sache im Raum. Vielmehr hört man ein Reiben, Schaben, Tröpfeln, Prasseln. Mal scheinen die Schleimhäute im Vormagen zu schmatzen, mal die Kiefer eines Krokodils zu mahlen. In „Fünf Fotos“ dagegen gleitet Wörmann so ruhig und lange von einer Dissonanz zur nächsten, bis Dissonanzen – ganz im Sinne Schönbergs – nicht mehr als Abweichung von der Norm wahrgenommen werden.

In einem dritten Film versucht Thiel ein Medium mit messerscharfer Präzision in ein anderes zu übersetzen: Jede Zuckung eines Schostakowitschstreichquartetts wird sichtbar als Zeichenstrich. In „Intensiv Blau“ dagegen interessiert sie genau das Gegenteil, nämlich die Kluft zwischen den einzelnen Komponenten des Films: Der Abstand zwischen Bildern und einappliziertem Text giert nach Assoziationsarbeit.

Eben Filme auf einem Niveau, das jederzeit für die einschlägigen Festivals Oberhausen, Osnabrück, Clermont-Ferrand gut ist. bk