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St. Petersburg Blues

Timo, Sergej, der Tattoomeister, Lama, der in einer Band singt, Rustam, der in einem Plattenladen jobbt, Dimitri, der als Aushilfe in einer Fabrik arbeitet – Leos Freunde. Eine Reise in die Normalität  ■ Von Felix Mennen

Wir fahren mit dem Bus vom Flughafen ins Zentrum. Durch moarode Plattenbausiedlungen. Das Grün drumherum ist verwildert. „Die nächste raus. Wir nehmen die Metro“, sagt Leo. Er ist hier aufgewachsen. Sieben Jahre in der Innenstadt, elf Jahre im Plattenbau. Dann wieder ins Zentrum, als er von der Armee zurückkam. „Wie ein Tier“, wie er selber sagt. Gorbatschow war gerade an die Macht gekommen. Peterestroika. Leo hat versucht, mit seinen „Heavy-Metal-Freunden“ die neue Freiheit zu leben. Nachdem er zweimal fast totgeschlagen wurde, ist er vor sechs Jahren als osteuropäischer Kontingentflüchtling nach Deutschland emigriert. Leonid Jakowlewitsch Elison, Jahrgang 65, ist Jude, „Heavy-Metal-Jude“. Im Gegensatz zu seinen Freunden konnte er Rußland verlassen. Drei Jahre ist er nicht mehr in St. Petersburg gewesen. Heute kehrt er zurück. Um seine Mutter zu besuchen, seinen Vater, alte Freunde und nicht zuletzt diese Stadt.

Die Bustür springt auf. Wir steigen aus. Leo vorneweg, in seiner abgeschnittenen Militärhose, auf dem Rücken den schweren Militärrucksack. Er war bei der Armee im Afghanistankrieg und in Sibirien. Wir stolpern mit unseren Koffern hinter ihm her. Alte Frauen stehen den Bürgersteig entlang. Verkaufen Gemüse: zwei Hände voll Tomaten, drei Salatköpfe, ein paar Kräuterbünde. Verkaufen, was sie haben. Bilden eine Reihe. Ich geh' dran vorbei, sehe auf die Waren in ihren Händen. Starke Hände.

In der Metro verteilt Leo Marken. Für die Drehkreuze. 15 Stück in einer Reihe. Irgendwo hindurch, dann reihst du dich ein in den Strom der Menschen.Steil und schnell geht es in die Tiefe hinunter. Vielleicht 100 Meter. Zweispurig. Auf einer dritten Rolltreppe kommen uns Menschen entgegen. Ich sehe ihnen hinterher. Sie stehen ganz schief auf der steilen Rolltreppe. Wie Bäume im Sturm. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Windschiefe Menschen. Und wenn dann noch einer an dir vorbeigehastet kommt, wie eine Klickerkugel die Rolltreppe hinunterholpert.

Absprung. Wir folgen Leo in einen Saal. Verzierte Säulen, alles ist marmor- und bronzefarben, Kronleuchter hängen von der Dekke. Festsaalbeleuchtung. Rechts und links lauter Fahrstuhltüren. Dahinter hält die Metro. Da staunst du dich durch. Komische kleine, runde, braune Buden überall. Kioske. Dazwischen wieder Frauen, halten in einer Kette bedruckte T-Shirts zum Verkauf in die Höhe. Drumherum das historische St. Petersburg. 100, 200 Jahre alte Bauten, fünfstöckige Wohnhäuser, braun, dreckig; Straßenbahndrähte kreuz und quer, ein McDonalds's-Zeichen ragt heraus. Der ehemalige Heumarkt. Hier hat Dostojewski gelebt.

Wir folgen Leo mit unserem Gepäck über den Schwarzmarkt. Wir denken, es geht zu unserer Wohnung. Es ist nämlich alles kein Problem, wie Leo immer wieder sagt. Niemand da. Wir setzen uns in eine Kneipe. Russische Popmusik plärrt aus den Boxen. Wir trinken ein Starkbier. Dann zurück in die Metro, zum Moskauer Bahnhof. Dort gibt es eine Wohnung. Alles kein Problem.

Auf dem Bahnhofsvorplatz schiebt ein Mann mit einem Reisigbesen unermüdlich Dreck auf ein großes Kehrblech. Zwei alte Männer sitzen auf einem Mauervorsprung und unterhalten sich. Graues Haar, sonnengegerbte Haut, tiefblaue Hemden, dunkle Anzughosen. Der Schmächtige hält eine große schwarze Hornbrille in seinen Händen, die er beinahe liebevoll betrachtet, während er erzählt. Ein Reinigungswagen spritzt hupend Wasser über den Boden. Wer nicht schnell genug aufsteht, wird naß. Leo kommt zurück. Es ist nach fünf Uhr, die Zimmervermittlung am Moskauer Bahnhof hat bereits geschlossen. Wir schließen unser Gepäck am Bahnhof ein und wollen etwas essen.

Mutter, Vater und in der Mitte ein Kind – eine Kleinfamilie beim Bummel; drei junge Männer in Anzügen, die Jacken lässig über die Schulter geworfen, flanierende Yuppies; zwei junge Frauen in Sommerkleidern, jede eine Halbliter-Bierflasche in der Hand. Die beiden riesigen Leuchtreklametafeln Coka- gegen Pepsi-Cola auf den Dächern am Platz des Aufstands vor dem Moskauer Bahnhof im Rücken, laufen wir ohne das schwere Gepäck den Newskij-Prospekt entlang Richtung Newa, Richtung Meer. Endlich hat Leo jemanden erreicht, Timo, ein Freund, wartet irgendwo die Straße runter auf uns.

Timo trägt eine abgeschnittene Militärhose, ein langes T-Shirt schlabbert darüber, und auf dem Kopf sitzt ein Basecap mit dem Schirm nach hinten gedreht. Er gehörte auch zu Leos Heavy-Metal-Clique. Sie haben früher zusammen Gras verkauft, Platten auf dem Schwarzmarkt, Parties veranstaltet, eine Kneipe aufgemacht. Illegal, versteht sich. Timo kann uns eine Wohnung besorgen. Er muß nur kurz telefonieren. Von sowas lebt er noch immer: kleine Gefälligkeiten, eine Wohnung, Drogen, etwas auf dem Schwarzmarkt beschaffen.

Zwölf Tage schliefen wir zu fünft in einer kleinen Zweizimmerwohnung, ständig umgeben von fünf bis zehn russischen Freunden von Leo. Wir sprachen mit Leos Eltern, mit seinen Freunden, Leuten, die wir trafen. Wir gingen zusammen auf Rockkonzerte, wir feierten zusammen das Brückenfest, wir feierten zusammen mit 15 Leuten und ebenso vielen Flaschen Wodka in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer einen 30. Geburtstag. „Believe!“ ruft Sergej. „Believe in Jesus!“

Leo winkt ab. „Ich bin Atheist. Mein Kopf ist mein Gott.“

„Music!“ Der kahlgeschorene Tattoomeister mit dem Agnostic- Front-T-Shirt lacht auf. „I believe in music!“

Timo, Sergej, der Tattoomeister, Lama, der in einer Band singt, Rustam, der in einem Plattenladen jobbt, Dimitri, der als Aushilfe in einer kleinen Firma arbeitet und nebenbei Motorräder repariert – es sind Leos Freunde. Junge Menschen, die kaum eine Chance haben, auf legale Art zu existieren. Junge Menschen mit Wut im Bauch, gegen Moskau, gegen das System. Junge Menschen, die am liebsten ganz weit weg in die große Welt hinaus gehen würden und denen trotzdem nichts über ihr geliebtes St. Petersburg geht.

Eine Stadt voller Gegensätze. Wunderschöne Fassaden, von außen. Und wenn man hineingeht in die Hinterhöfe, der Geruch von Pisse, verfallene Autowracks. Kleine Schienenstücke fehlen auf den Tramgleisen. Ganz langsam geht die Tramwaij in die Kurve. Der Asphalt um die Gleise bricht. Vorsichtig hoppeln die russischen Autos über die Kreuzung. Und dann plötzlich ein 500er Mercedes. Mehr wert als alle Fahrzeuge auf dem Rest der Straße zusammen. Und auf der anderen Seite, auf der Bank der Bushaltestelle, liegt vor einer Werbetafel eine wodkakotzende Leiche. Die Ampel schaltet auf Rot, und das Taxi hält. Der Scheibenwischer quietscht. Ein Soldat läuft draußen im Nieselregen die Häuserfront entlang. Vor ihm, in einer Hinterhofeinfahrt, wühlt eine alte Frau im Müll. Plötzlich springt eine Katze heraus. Die alte Frau blickt erschrocken auf. Als sie den Soldaten sieht, wendet sie sich schamvoll ab und verschwindet im Schatten des Hinterhofs. Der Soldat läuft an der Einfahrt vorbei und weiter durch den Nieselregen die Häuserfront entlang. Er trägt eine tarnfarbene Uniform. Sie hat die Farbe der Straße.

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