Die schwierige Suche nach der Nr. 1

■ Zwillingsforschung in der Kunst: Eine sehr spannende Ausstellung in der Bremer Kunsthalle dokumentiert am Beispiel von zwölf Gemälden, wie unsinnig die Unterscheidung zwischen Original und Kopie zuweilen ist

Kein Mensch hätte bei den Kessler Zwillingen, beim doppelten Lottchen oder bei Hanni und Nanni gefragt: Welche ist die Wahre, welche die Falsche? Weder das Ausmaß der Schönheit noch der frühere oder spätere Zeitpunkt der Geburt macht einen der Zwillinge für eine Mutter mehr oder weniger echt/authentisch/überlegen. Kunsthistoriker aber sind keine Mütter. Dies ist das Problem. Existieren von einem Ölgemälde zwei oder gar siebzehn Fassungen aus des Künstlers hehrer Hand (wie bei Lucas Cranachs erotischer, also bestens verkäuflicher „Quellennymphe“), dann erklären sie das vermeintlich „Schönste“ davon für das Erste und damit für das einzig Wahre.

Dahinter steckt eine Genieästhetik, die den einzigartigen, unwiederholbaren, einsamen Zeugungsakt verhimmelt, die streng zwischen herrlicher Idee und stumpfer handwerklicher Ausführung unterscheidet, die aber mit der realen Kunstproduktion – die immer voller Nachahmungen und Selbstzitaten ist – reichlich wenig zu tun hat. Meist erhält bei verschiedenen Fassungen nur eine einzige die Ehre, in den Werkkatalog eines Künstlers aufgenommen zu werden, erzählt Andreas Kreul, der Kurator der „Doppelgänger“-Ausstellung in der Kunsthalle. Deshalb ist es ziemlich ungewiß, von wievielen Bildern wieviele Duplikate existieren.

Wenige dürften es jedenfalls nicht sein. Allein für den Bestand der Bremer Kunsthalle hat Kreul sechzehn Stück entdeckt – mehr oder minder durch Zufall. Da meldet sich eben plötzlich ein Sammler, und erklärt, er besitze das nämliche Bild wie die Kunsthalle. Zwölf der Doubel sind nun mitten in die Sammlung eingeschmuggelt – und hinterfragen damit den Anspruch der Einzigartigkeit auch der anderen Bilder.

In den allermeisten Fällen ist nicht rekonstruierbar, welches Bild das erste ist. Ein spannender Aufsatz Kreuls im Katalog zeigt dann darüber hinaus noch, wie sehr die Bewertung der einzelnen Fassungen vom jeweiligen historischen Kontext abhängig war und ist. Die Konsequenz: Nebeneinander gelten lassen statt zu klassifizieren; und alles und jedes ist gleich nah zu Gott – was die Aufklärung schon seit langem wußte.

Kreuls Ausstellung hat übrigens selbst in einem Fall zu einer Umwertung der Werte geführt. Bei Van Dycks Porträt des Pfalzgrafen bei Rhein zu Neuburg galt bislang die Fassung der Münchner Pinakothek als „die wichtigere“. Doch seit dem Vergleich mit der ebenfalls hochwertigen Bremer Fassung spielen die Münchner Museumsleute mit dem Gedanken, die ihre ins Depot zu verbannen. Der Hintergrund (Vorhang, Wolken und Teppich) tritt nämlich bei der Bremer Fassung deutlicher hervor. Doch ob das Bild dadurch gewinnt, oder vom Wesentlichen, dem Gesicht, abgelenkt wird, ist letztlich Geschmackssache. Auch eine Dublette von J.C.Holblock problematisiert die Sache mit dem Bewerten. Bei dieser „Italienischen Landschaft“ (1840) sind die Bäume der mutmaßlichen zweiten Fassung satter belaubt. Das Auge wird dadurch vom fernen Horizont abgezogen. Eine mögliche symbolische Bedeutung (Memento mori) der ersten, entblätterten Fassung, verschwindet aber. Ein etwas anderes Bild, aber eben kein besseres, kein schlechteres. Ein gewisser Johann Wilhelm Schirmer hat seinen „Waldblick“ (1840) einmal geduldig geglättet, das andere Mal schnell hingefetzt, voller Farbbatzen und schlecht vermischter Pinselfahrern. Das eine Mal ist eine Schattenfläche pechschwarz, das andere Mal erkennt man darin Reste von Struktur. Was ist hochwertiger?

Aber diese schöne Ausstellung, übrigens die erste innerhalb der sieben Museen umspannenden Reihe „Wir haben das Original“, hinterfragt nicht nur abgestandene Hierarchisierungen in der Kunst. Auch macht sie sensibel für die Wichtigkeit winziger Details. Oft unterscheiden sich die Farbwelten von Dubletten allein aufgrund unterschiedlicher Lassierung. Und schon rückt auf dem einen Bild ein Ding – eine Hand, ein freistehender Baum – in den Vordergrund, der in der anderen Variante so bedeutend nicht ist. Bemerkenswert allein schon, wie sehr die Rahmung den Gehalt eines Bildes steuert, infiltriert, korrumpiert. Eine alte, einfache Frau rüttelt im Holzrahmen an Mitleidinstinkten, im Goldgeklimpere dagegen nicht. Und auch die Hängung – oben oder unten – steuert die Wanderwege des Blicks durch ein Bild.

So unspektakulär also die Idee mit den Zwillingspaaren im ersten Moment erscheint, so aufregend ist die Begegnung mit ihnen. Nicht umsonst hat die Zwillingsforschung auch in der Soziologie und Psychologie schon viele Erkenntnisse ermöglicht. bk

Die Ausstellung „Doppelgänger“ ist bis zum 4. Juli in der Kunsthalle zu sehen