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Fortbildung in Insolvenzrecht

Die Rostocker Schiffe- und Motorenbauer sollen Ost-Beihilfen zurückzahlen. Das Unternehmen steht vor dem Aus, der Betriebsrat vermutet Rufmord  ■ Von Beate Willms

inen Fahrplan gibt es nicht am Halt Warnemünde-Werft, und im Bahnwärterhäuschen hat schon lange keiner mehr gesessen. Die wenigen Fahrgäste, die die S-Bahn hier verlassen, laufen quer über die Schienen, ohne sich umzusehen. Wer hier aussteigt, will zu Aldi und dann wieder weg. Nur die verfallene Brücke, die auf die andere Seite der Gleise führt, direkt zu den Kränen der Kvaerner Warnow Werft, erinnert daran, daß das einmal anders war.

Zu DDR-Zeiten stiegen hier täglich mehr als zehntausend Leute aus, Arbeiter und Angestellte aus den Werften und Zulieferbetrieben. Von der ehemaligen Neptun Werft ist nur ein Trockendock der Neptun Industrie Rostock übriggeblieben, Kvaerner beschäftigt noch 1.250 Männer und Frauen, die schichtweise ankommen, 291 sind's im Dieselmotorenwerk Rostock, das erst vor zwei Jahren eine neue Halle in der Nähe der Werft bekommen hat.

Trotzdem setzt die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern immer noch alle Hoffnung auf die Schiffbauindustrie, für deren Privatisierung sie seit 1990 gemeinsam mit der Treuhand und deren Nachfolgerin BvS Milliardenbeihilfen geleistet hat. Damit wurde die Kvaerner Warnow Werft zu einer der modernsten europäischen Werften ausgebaut. Und das Dieselmotorenwerk, das nach dem Konkurs des Bremer Vulkan im August 1996 wieder in die Hände des Landes und der BvS übergegangen ist, zu einem von nur vier europäischen Unternehmen, die Zweitaktdieselmotoren für Containerschiffe bauen können.

„Früher dachten alle, wir haben das große Los gezogen“, sagt Claus Neumann, ein breitschultriger Mittfünfziger mit einem sorgfältig gestutztem Vollbart, der in den letzten Tagen viel Sonne abbekommen haben muß. „Und nun – pööh.“ Seit ein paar Wochen kann er am Strand spazierengehen, wann immer er Lust hat. Oder es zu Hause nicht mehr aushält. Er ist oft am Strand. Am 1. April ist er arbeitslos geworden, nach 35 Jahren als Dreher im Dieselmotorenwerk, zusammen mit 139 Kollegen. Die Auffanggesellschaft, in der er die nächsten beiden Jahre geparkt – „sagen Sie das ruhig“ – werden sollte, steht noch nicht.

Ausnahmezustand also im Rostocker Schiffbau. Nachdem der norwegisch-britische Konzern die Kvaerner Warnow Werft jahrelang hochgepäppelt hat, hat die oberste Leitung nun plötzlich beschlossen, den Schiffbau ganz aus dem Programm zu streichen. Im ersten Quartal dieses Jahres hat der Konzern 1,1 Milliarden Mark Verluste gemacht.

Verkauf? Kein großes Problem, hat die Geschäftsführung in Warnemünde sofort erklärt: Einen so superschicken Betrieb müsse doch jeder Konzern mit Kußhand nehmen. Dabei war doch schon vorher durchgesickert, daß die EU-Wettbewerbskommission in Brüssel die Werft im Verdacht hatte, die Kapazitätsbegrenzung, die mit den hohen Beihilfen verbunden war, weit überschritten zu haben. Jetzt will sie, daß Bund und Land das Geld zurückfordern. Nicht nur in Rostock mit jetzt schon 20,2 Prozent Arbeitslosen fragt man sich nun, wer denn einen Schiffbaubetrieb kaufen will, der mit einer Rückzahlungsforderung von mehr als einer Milliarde Mark belastet ist und seiner Belegschaft auch noch eine Arbeitsplatzgarantie bis mindestens zum Jahr 2001 erteilt hat. Ganz abgesehen davon, daß die europäischen Werften auf dem Weltmarkt beinahe abgehängt sind von der südkoreanischen und japanischen Konkurrenz.

Die Geschäftsführung läßt jedoch nicht mit sich reden – alle Anrufe landen automatisch bei „Trott, Unternehmenskommunikation“. Und enden dort auch. Auf das Gelände darf niemand, und vom Nachbargrundstück aus sind nur leere Hallen zu sehen, seit das letzte Schiff Anfang April vom Stapel lief. „Wir warten ab, was Kvaerner beschließt“, bescheidet Kommunikationsspezialist Trott.

Beim Dieselmotorenwerk nebenan weiß man, daß man nichts mehr zu verlieren hat, vor allem, wenn auch noch die Warnow Werft als Kunde wegfiele. Schon jetzt sind die sechs, sieben Arbeiter in Blaumännern und gelben Helmen in der fußballfeldgroßen Endmontagehalle kaum noch auszumachen. Ein einzelner Motor röhrt irgendwo hinten in der Ecke. Auf der anderen Seite der Halle liegt eine Kurbelwelle, made in Tschechien, die zu dem Motor gehört, der gerade in Arbeit ist. Der vierte in diesem Jahr. Sechs sollen es insgesamt werden. So sieht es das jüngste Sanierungskonzept für das Unternehmen vor, von dem alle hoffen, daß es diesmal auch funktioniert. Nicht wie das des Bremer Vulkan, der das Dieselmotorenwerk auf Serienherstellung umprogrammierte, so daß der Maschinenpark heute für lukrative Sonderanfertigungen unbrauchbar ist. Für einen Verbund mit allen ostdeutschen Werften hatte man sich mal ein potentielles Volumen von 30 Motoren vorgestellt. Jetzt also sechs. Sechs in diesem Jahr, acht im nächsten, danach zehn. Ein Dreijahresplan, für den der Betriebsrat einer Verschiebung der tariflichen Lohnerhöhung zugestimmt hat – und der Kündigung der 140 Kollegen.

Es sei ihm nicht leichtgefallen, den Aufhebungsvertrag zu unterschreiben, meint Claus Neumann. Immerhin hatte er bis dahin alle Entlassungsaktionen überstanden, bei denen seit 1990 mehr als 2.100 Leute gehen mußten. Aber Betriebsrat und Geschäftsführung hätten ihm das „mehr oder weniger nahegelegt“. Und so wisse er wenigstens, wie er die Zeit bis zur Rente verbringen soll: zwei Jahre in der Auffanggesellschaft und 32 Monate in der Arbeitslosigkeit. Nur daß er danach wegen der Blümschen Rentenreform und des frühen Ruhestands 18 Prozent weniger Geld bekommen wird, als wenn er noch die neun Jahre weitermachen dürfte. „Aber wer weiß, ob es nicht beim nächsten Mal noch schwieriger geworden wäre.“ Die Freude über die Höhe der Abfindung währte nur zwölf Stunden, dann kam „die erste Reduzierung“, eine zweite folgte. Da sei er drauf und dran gewesen, seinen Namen wieder von der Entlassungsliste streichen zu lassen.

Möglicherweise war die ganze Aufregung umsonst. Denn inzwischen geht es dem Dieselmotorenwerk richtig schlecht. Auch wenn es jetzt, betriebswirtschaftlich gesehen, auf dem besten Weg sein könnte, sich eine solide Ausgangsposition zu schaffen. Denn auch hier haben die EU-Wettbewerbshüter eine Sprengladung angebracht: 118,35 Millionen Mark sollen sich Land und Bund dieses Mal zurückholen. So viel haben sie als Gesellschafter dem Unternehmen nach Ansicht von EU-Kommissar Karel van Miert in den letzten Jahren illegal zugeschanzt, indem sie Zins- und Tilgungsraten erst einmal aussetzten.

Und auch hier versucht sich die Geschäftsführung in Schadensbegrenzung: Man sei liquide. Das operative Geschäft verlaufe im Plus. „Aber mit der Rückzahlungsforderung ist das Dieselmotorenwerk natürlich überschuldet.“ Das wissen auch die Gesellschafter und weigern sich deshalb bislang, die Millionen zurückzufordern. „Es ist doch verrückt“, sagt Peter Lehmann, Betriebsratsvize und Mitglied im Aufsichtsrat, „niemand will das Geld.“

Unten in der Halle taucht ein königsblauer Kuschelpullover zwischen all den Drillichanzügen auf. „Die Leute sind schon toll“, sagt Petra Liebke, seit 17 Jahren Ingenieurin bei DMR. „Die Belegschaft ist viel weniger aufgeregt als wir im Betriebsrat.“

Der belegt ein großes Büro im ersten Stock. Mit einer Sekretärin und einem riesigen Versammlungstisch, Eiche rustikal. Platz genug für die neun Mitglieder und auch noch für Gäste. Oder für Beratungen, wie sie jetzt immer wieder stattfinden: Der Betriebsrat vermutet eine Verschwörung hinter der Forderung aus Brüssel. „Das ist eine Kampagne“, sagt Lehmann. „Rufmord“, sagt IG-Metall-Vertrauenskörperleiter Helmuth Huckstorf, Liebke blickt von einem zum anderen, nickt. „Wer gibt uns denn jetzt noch einen Auftrag?“

Verschwörungstheorien? Seltsam ist zumindest einiges. Etwa, daß die Rückzahlungsforderung Freitag abend nach Feierabend bekannt wurde. Sie sei gerade nach dem Einkaufen ins Auto eingestiegen, sagt Liebke. „Da meinte mein Mann: ,Psst. Da ist DMR im Radio.'“

Wer die Meldung an die Medien gegeben hat, wissen weder Betriebsrat noch Geschäftsführung. Es sei zwar vorher klar gewesen, daß „in Brüssel was im Busch ist“, aber was alle überrascht habe, sei die Höhe der Summe. Daß allein die ausgesetzten Raten zusammen einen dreistelligen Millionenbetrag ergeben, kann sich niemand vorstellen. Und zumindest die Betriebsräte haben den offiziellen Bescheid der EU-Kommission bislang noch nicht zu sehen bekommen.

Und noch etwas gibt ihnen zu denken. Es soll gar keine Klage in Brüssel gegeben haben. „Wer hätte denn auch Interesse daran gehabt?“ fragt Huckstorf. Das eigentliche Problem bei den Schiffsmotoren ist, wie im Schiffbau auch, daß der Weltmarkt von Süd-Korea beherrscht wird, wo die Maschinen bis zu 30 Prozent billiger sind. „Das ist unterm Materialpreis“, so Huckstorf. Das liege nicht nur an den billigeren Löhnen, sondern vor allem daran, daß die südkoreanischen Motorenbauer allesamt zu Großkonzernen gehören. So könnten sie kurzzeitige Verluste aufgrund der Dumpingpreise durch Gewinne in anderen Zweigen ausgleichen, bis der Konkurrenz die Luft ausgeht. Immerhin hat sich das Dieselmotorenwerk Rostock am weitesten an dieses niedrige Preisniveau herangearbeitet. Und darauf sind auch die Betriebsräte stolz. „Wir sind der Pfahl im Fleisch der Koreaner“, sagt Huckstorf. Wie allerdings die südkoreanische „Schiffsmotorenmafia“ die EU-Kommmission dazu gebracht haben soll, die Subventionspraxis des ostdeutschen Konkurrenten zu durchleuchten, kann er auch nicht erklären. Da seien eigentlich die Wettbewerbshüter vor.

Wie es weitergehen soll, wissen die Betriebsräte nicht. Schon als die ersten Alarmzeichen aus Brüssel durchdrangen, hatte Huckstorf sich hingesetzt und einen Brief an den „Sehr geehrten Herrn Minister, lieber Oskar“ geschrieben, der ihm nun aber auch nicht mehr helfen kann. Die Solidaritätsadressen sind bereits eingesammelt. Werftarbeiter aus Warnemünde, Wismar und Stralsund haben die Dieselmotorenwerker auf einem Autokorso zum Schweriner Wirtschaftsministerium begleitet. Der Rostocker Oberbürgermeister hat öffentlich erklärt, die maritime Industrie sei unverzichtbar: „Wir haben doch sonst nur den Hafen und die Uni.“

Aber da van Miert sich wohl kaum umstimmen lassen wird, stellt der Konkurs möglicherweise die einzige Chance dar, einen neuen Investor zu finden und weiterzumachen – wenn das Unternehmen dadurch die Rückzahlungsforderungen los würde. Der Kreis der potentiellen Interessenten ist jedoch klein. Während die Warnow Werft nebenan sich noch – begrenzte – Hoffnungen machen kann, von einem Schiffbaukonzern wie etwa Meyer oder Aker gekauft zu werden, bleibt den Motorenbauern bestenfalls die Übernahme durch einen der europäischen Konkurrenten. „Und dann wären wir nur noch dessen verlängerte Werkbank“, so Liebke.

Kein Wunder, daß Claus Neumann die Chancen auf einen akzeptablen Übergang in den Ruhestand stündlich schwinden sieht, vor allem, seit er gehört hat, daß der Betriebsrat bereits eine Fortbildungsveranstaltung zur neuen Insolvenzordnung besucht hat. „Wenn es jetzt zum Konkurs kommt, werden wir zuletzt Entlassenen wieder mit reingezogen“, glaubt er. „Das ist für die doch ein Aufwasch.“ Deswegen dauere es so lange mit den Abfindungen. Einfach warten will er nicht. Aber was sonst? Früher habe er immer gedacht, 90 Prozent der Leute seien Verbrecher, „jetzt weiß ich, es sind 98 Prozent“.

Seit ein paar Wochen kann er am Strand spazierengehen, wann immer er Lust hat. Oder es zu Hause nicht mehr aushält. Er ist oft am Strand

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