Auf Klassenfahrt mit Volker

Volker Rühe, in besseren Zeiten Bundesverteidigungsminister der CDU, müht sich, der nächste Ministerpräsident in Schleswig-Holstein zu werden. Ein Porträt  ■   von Heike Haarhoff

Zehn Uhr ist zehn Uhr. Dem Blick auf die Armbanduhr folgt eine stumme Kopfbewegung, die Abmarsch signalisiert. Die Sonne taucht den backsteinroten Turm des Ratzeburger Doms ins rechte Licht für Urlaubsfotos, und Volker Rühe fühlt sich „wie auf Klassenfahrt“. Entsprechend hat er sich angezogen: Wandertreter, beige Bundfaltenhose, die bunte Allwetterjacke leger um die Hüfte geknotet. So wie vor 30 Jahren, als er noch Englischlehrer war in Hamburg-Harburg. Pünktlich, auch damals. Das dunkelblaue Polohemd spannt leicht über dem Bauch. Für Marathon „bin ich zu schwer“.

Er nimmt's leicht. „Beim Laufen“, unterrichtet er das gute Dutzend Parteifreunde und die umstehenden Journalisten, „können Sie sich nur auf sich selbst konzentrieren.“ Das aber mag ein Profi wie Volker Rühe sich nicht leisten. Lieber wandert der wahlkämpfende Christdemokrat wie an diesem Morgen 15 Kilometer von Ratzeburg nach Mölln, „da bekommt man viel von seiner Umgebung mit“. Das „wirklich schöne Herrenhaus“ nahe dem Ratzeburger Dom etwa oder „unsere schönen Feuchtgebiete“ auf dem nun folgenden Wegesabschnitt. „Gucken Sie mal“ – er nutzt den Moment der eigenen Ergriffenheit über die schlammigen Pfützen, die Hand der Reporterin neben ihm zu streifen –, „richtig schön, nicht?“

Den massigen Oberstudienrat, der es unter Kohl zum Bundesverteidigungsminister brachte, drängt es, Marken zu setzen in seinem neuen politischen Revier. Das heißt Schleswig-Holstein und wird am 27. Februar 2000 eine neue Landesregierung wählen. Volker Rühe möchte an ihrer Spitze stehen. „Ich bin ein Macher“, sagt der 56jährige von sich. Einer, der sich auf der Oppositionsbank im Bundestag seit vorigem September quält und der weiß, daß seine parteipolitische Karriere und sein Schielen aufs Kanzleramt vom Erfolg in Kiel abhängen. Also stapft er bereits zehn Monate vor der Landtagswahl durch Wälder, über Deiche und durch mittelständische Gewerbebetriebe Norddeutschlands und beteuert: „Ich habe viel vermißt in Bonn.“ Oder, wahlweise: „Cocktailpartys in Washington oder New York haben mir nie besonders Spaß gemacht.“

„Er ist unser erster Mann“, sagt die CDU in Kiel. „Unser einziger“, müßte es korrekt heißen, denn selbst politisches und rhetorisches Mittelmaß ist unter den Christdemokraten im Norden seit dem Dahinscheiden Uwe Barschels selten geworden. Deswegen wird die Partei Rühe in stiller Dankbarkeit zum Spitzenkandidaten küren.

Aber, fürchten seine politischen Berater, es wird kein Selbstläufer, die Menschen für ihn zu gewinnen zwischen Nord- und Ostsee. Seit elf Jahren regiert in Kiel die SPD, die letzten vier davon mit den zur Selbstzerfleischung neigenden Grünen. Zwar ist das Land hoch verschuldet und kriselt zwischen gerichtlich untersagten Immobiliendeals und Landesabfallabgaben vor sich hin. Doch Rühe tritt auch gegen Heide Simonis an, die einzige und sehr populäre Ministerpräsidentin Deutschlands.

Seine häufig heruntergezogenen Mundwinkel sind den Schleswig-Holsteinern vertraut, allerdings nur aus dem Fernsehen. Immer noch ordnen sie Rühes Gesicht eher Einsätzen deutscher Blauhelmtruppen zu. „Kommt Heide Simonis eigentlich wirklich so gut beim Volk an, wenn sie über die Märkte zieht und Hüte kauft?“ erkundigt sich neidisch ein Vertrauter Rühes auf der Wanderung.

Noch immer wirkt der so richtig sicher erst dann, wenn er übers Militärische reden darf. Bei der CDU Wentorf im Hamburger Speckgürtel am Vorabend der Ratzeburger Wanderung wird der Ex-Minister eine halbe Stunde mit Fragen zum Kosovo-Krieg bombardiert, bevor er auch nur ein Wort über seine Kandidatur verlieren kann.

„Wir stehen an einem Scheideweg“, sagt er dann, wippt breitbeinig hinter dem Mikro und zieht die Augenbrauen zusammen. Zu den Luftangriffen der Nato gebe es keine Alternative, denn – sein Ton wird schärfer – „ein Kampfeinsatz am Boden mit vielen Opfern würde das Risiko eines größeren Krieges in Europa in sich bergen“. Andersdenkende innerhalb der eigenen Parteireihen, prahlt er, habe er mittlerweile vom Gegenteil „überzeugt“. Wird er sich auf diese Art auch in Schleswig-Holstein durchsetzen?

Volker Rühe legt einen Schritt zu. Der Waldweg wird matschig. Er müht sich um Bodenständigkeit und Volkstümlichkeit. Daß es ihm daran mangele, konnte er in den vergangenen Wochen in der Presse nachlesen. Also fragt er: „Ist das hier eine Lärche?“ Und, ohne die Antwort abzuwarten: „Schön, nicht?“ Zwei Stunden ist er schon unterwegs. Das Kamerateam hat sich längst verabschiedet. Volker Rühe hat Ausdauer. Das hier ist noch gar nichts. „Power walking“, sieben Kilometer pro Stunde zu Fuß, und das über mehrere Tage, von Hamburg nach Polen etwa, ist sein Ding. Normalerweise. Heute schmerzt der Meniskus.

Niemals freilich ist er mit Kind und Kegel unterwegs wie weiland Bundespräsident Carl Carstens, sondern mit toughen Kerlen, die schon die Anden überquert haben, auf halber Strecke um den Ratzeburger See den Flachmann zücken und ihre ganz eigene Art von Humor pflegen. Als die 15 Kilometer kein Ende nehmen wollen und die Journalisten ihre Lieben daheim telefonisch benachrichtigen, daß es wohl später wird, läuft der Troß zu Hochform auf: „Volker“, rufen die Begleiter dem möglichen künftigen Ministerpräsidenten zu, „die Journalistin hier gibt die Meldung durch: Ich stehe im Wald mit zwei Männern, und Volker Rühe guckt zu.“ Rühe lacht das ihm eigene Lachen. Knarzend-trocken.

Dann hält der Wandersmann inne, tritt an den Zaun. Auf dem Feld dahinter stechen fünf Männer und Frauen Spargel. „Sind Polen, verstehen kein Deutsch“, vermutet ein Begleiter. „Schön, nicht?“ entfährt es Rühe. Der Bauer kommt an den Zaun. „Wunderbaren Spargel“ habe er, ganz frisch, nur 13,90 Mark das Kilo.

Heide Simonis hätte spätestens jetzt drei Kilo Spargel in ihrer Tasche verstaut und würde vermutlich gerade den ewigen Konflikt zwischen Butter und Béchamelsoße debattieren. Rühe überlegt laut: „Ich bin heute nicht zu Hause, morgen nicht, ach nein, danke.“ Der Bauer blickt verwirrt. Ein so unstetes Leben führt man nicht, nicht hier auf dem Land.

Aber das soll sich unter Rühes Regentschaft sowieso ordentlich verändern. „Ich rede lieber durch Taten“, sagt er und meint: mehr Autobahnen, Kieler Hafen ausbauen und mehr Kooperation mit den norddeutschen Nachbarländern. Für das „unterindustrialisierte“ Schleswig-Holstein wünscht er sich zahlreiche und moderne Technologieansiedlungen – „bei Wahrung aller Traditionen bis hin zum Plattdeutschen“. Das er selbst nicht spricht.

Nicht schön, dies.

„Fisch und Chips“, auch „Handys und Halligen“ nennt Rühe die abgekupferte norddeutsche Variante eines Programms, das der bayerische Ministerpräsident einst unter dem Motto „Lederhose und Laptop“ kreierte.

Im CDU-Ortsverband Wentorf werden solche Sprüche noch Tage nach dem Auftritt des Promis aus Bonn begeistert jenen Mitgliedern erzählt, die die „originelle Art“ des Volker Rühe nicht selbst miterleben konnten. Nur die Sache mit den Gesamtschulen stößt manchen bitter auf. Er werde die Haßobjekte christdemokratischer Bildungspolitik als Landesvater zwar nicht vermehren, die bestehenden aber auch „nicht ideologisch bekämpfen“, hat Rühe erklärt. Schließlich „arbeiten dort Menschen, gehen dort Kinder zur Schule“.

Als „zu weich, zu schwammig“ empfindet ein pensionierter Parteifreund, der vormals im Jägerbataillon zu Wentorf diente, „diese Positionen, an denen man sich nicht verbrennen kann“. Dem Wanderer Rühe macht die Kritik wenig aus. Oft war er seiner Partei einen Schritt voraus im liberalen Denken. Als er Anfang 1985 die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze im Sinne Willy Brandts Ostpolitik anerkannte und damit der CDU-Bundesregierung öffentlich widersprach, „wollten sie mich erst aus der Partei ausschließen“. Heute grinst er darüber.

Die Erfahrung hat sein Selbstbewußtsein gestärkt. Die eine oder andere Fixerstube für „schwerstkranke Drogenabhängige“ würde Rühe durchaus geöffnet lassen. Die Unterschriftenaktion der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vermochte er nicht zu verhindern. Aber immerhin „konnte ich durchsetzen, daß in der Ausländerpolitik Integration obenan stehen muß“. Es geht ja auch nicht anders angesichts der Realität, findet er: „Meine Tochter hat bald Konfirmation, wir gehen zum Türken.“

Wer sich seinen Ansichten widersetzt, hat häufig das Nachsehen, zumindest in der CDU in Schleswig-Holstein. Kühl servierte Rühe unlängst den rechtskonservativen Landesvorsitzenden Peter Kurt Würzbach ab. Der unbeliebte Sprücheklopfer, der gern gegen Obdachlose, Scheinasylanten und sonstige Sozialhilfebetrüger ausfällig wird, hatte Rühe, der bei allem „Respekt vor Helmut Schmidt“ eine Große Koalition ausschließt, massiv gestört beim Werben um die FDP als künftige Regierungspartnerin.

Es bedurfte eines einzigen Gesprächs mit dem designierten Spitzenkandidaten, und Würzbach zog seine geplante Kandidatur für den Listenplatz zwei zurück. „Die haben meine Macht unterschätzt“, wundert sich Rühe. „Dabei wissen sie doch, daß sie mich brauchen.“

Die letzte Etappe der Wanderung von Ratzeburg nach Mölln, und das Trüppchen schleppt sich wie eine Ausflugsgruppe dahin. Schweigen macht sich breit. „Schön, diese Ruhe“, sagt Rühe. Kurz darauf fährt ein Auto über den einsamen Waldweg. Da schneidet der Sportsmann plötzlich unvermittelt und von sich aus ein Gesprächsthema an, zum erstenmal seit vier Stunden. Ob zufällig jemand wisse, ob „die Zeit des Froschlaichens“ schon vorbei sei. Was meint er bloß? „Die Zeit der Krötenwanderung, Herr Rühe?“ Er brummt etwas. Nach peinlicher Berührtheit klingt es nicht.

Dann wendet sich sein Interesse einem plattenbauartigen Wohnsilo inmitten der Felder zu. „Ein Alten- oder Rehazentrum ist das“, lehrt ein ortskundiger Parteifreund. Rühe setzt seinen Gutachterblick auf. Eine kleine Pause.

„Das“, urteilt er sodann, „ist ja nicht so schön.“