: Eine grüne Seele
Spitzenkandidatin der Berliner Grünen ist die 43jährige Renate Künast. In ihrer Person verkörpert sie das grüne Profil ■ Von Dorothee Winden
Renate Künast weiß, daß viel von ihrer Rede abhängt. Als die 43jährige mit dem frechen, weißblondgefärbten Haarschopf vor die Mitgliederversammlung der Grünen tritt, weiß sie, daß es auf die nächsten fünf Minuten ankommt. Die Fraktionssprecherin will ihre Partei als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf führen. In Michaele Schreyer, mit der sie seit anderthalb Jahren als Doppelspitze die Fraktion führt, hat sie eine in jeder Hinsicht ebenbürtige Gegenkandidatin.
Künast wollte Bundesjustizministerin werden und wurde es nicht, sie wollte EU-Kommissarin werden und wurde es nicht. Die Spitzenkandidatur will sie nun unbedingt. Es könnte knapp werden, zumal Künast als gemäßigte Linke damit rechnen muß, daß die dritte Kandidatin, Ida Schillen, Stimmen der Linken auf sich zieht.
Bei der grünen Mitgliedervollversammlung, die an diesem Wochenende die Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober 1999 aufstellt, kann eine zündende Rede ausschlaggebend sein. Künast hat die nicht ganz leichte Aufgabe, als erste zu den 550 Versammelten zu sprechen, die nun schon über zwei Stunden auf den Holzbänken des Audimax der Technischen Universität ausharren. Die Versammlung war zu Beginn nicht beschlußfähig. Viele grüne Mitglieder waren noch bei der Demonstration gegen den Kosovo-Krieg, viele andere blieben im Verkehrschaos stecken, das die Demonstration in der Innenstadt verursacht hatte.
So beginnt Künast auch mit dem Thema, das die Grünen seit Wochen am meisten umtreibt. „Uns beschäftigt alle etwas ganz anderes als die Kandidatenaufstellung“, sagt sie. Die Grünen, hebt sie hervor, seien die einzige Partei, die öffentlich über den Kosovo-Krieg diskutierten. Verhaltender Beifall. Künast spricht sich „für ein Berlin der unterschiedlichen Lebensentwürfe“ aus, für ein „multikulturelles Berlin“. Keine Frage, Künast verkörpert die Themen, die die grüne Identität prägen: Liberalität in der Inneren Sicherheit und Bürgerrechte für Minderheiten. Auch das Motto, das in riesigen Lettern auf der Bühne prangt, paßt zu ihrem Profil: „Berlin ist anders.“
Dann wird Künast kämpferisch, attackiert scharf die Hauptstadt-CDU, knöpft sich aber auch den Wunsch-Koalitionspartner SPD vor: „Selbst ein Trabi hat mit einem PS mehr Power unter der Haube als diese SPD.“ Der Saal klascht begeistert Applaus, zustimmende Pfiffe ertönen. „Ich habe zwei Ziele für den grünen Wahlkampf: ein brilliantes Wahlergebnis für die Grünen und den politischen Wechsel. Los geht's!“ Künast hat mitten in die grüne Seele getroffen.
Auch Michaele Schreyer geht in ihrer Rede auf den Kosovo-Krieg ein. Wie Künast hat sie die Nato-Luftangriffe mitgetragen, die Positionen der beiden unterscheiden sich kaum in dieser Frage. Die 47jährige Reala, die eher die neue Mitte verkörpert, verweist auf ihre Verdienste als grüne Umweltsenatorin im rot-grünen Berliner Senat. Schreyer ist „das Kronjuwel“ der Partei, wie es ein Grüner einmal formuliert hat. Die zuweilen streng wirkende Finanzexpertin genießt Respekt, aber Künast hat einen eindeutigen Sympathievorsprung. „Unser Wahlkampf wird eine Generalabrechnung mit der Großen Koalition,“ sagt Schreyer. Die Vorschläge der Grünen scheiterten nicht am mangelnden Geld, sondern am mangelnden Hirn des Senats. Sie bekommt starken Beifall, aber die Herzen der Mitglieder hat sie nicht erobert.
Im ersten Wahlgang liegt Künast mit 273 Stimmen deutlich vor Schreyer, die 180 Stimmen erhält. Die dritte Kandidatin, Ida Schillen, die als dezidierte Kriegsgegnerin angetreten ist, erhält 87 Stimmen. Im zweiten Wahlgang erhält Künast mit 445 Stimmen das beste Ergebnis des Tages. Sie erzielt 83,5 Prozent der abgegebenen Stimmen. Schreyer wird wenig später mit 395 Stimmen auf den zweiten Listenplatz gewählt.
Als während des Auszählens eine Gruppe von Kriegsgegnern die Bühne besetzt und eine Rede verliest, kann Schreyer schon wieder scherzen: „Das ist ja die gleiche Rede, die sie gestern bei der grünen Kosovo-Debatte gehalten haben. Das ist ja unzumutbar“, sagt sie in gespielter Empörung.
Der Kosovo-Krieg beeinflußt die Listenaufstellung letztlich nicht. Auf Platz drei, der nach der sogenannten „Neuenquote“ für einen Parlamentsneuling reserviert ist, setzt sich die politisch erfahrene 50jährige Camilla Werner klar gegen die 30jährige Nachwuchslinke Lisa Paus durch. Auf Platz vier wird mit dem innenpolitischen Sprecher der Grünen, Wolfgang Wieland, eine weitere Galionsfigur der Westberliner Grünen gewählt. Als erste Ostkandidatin wird die Arbeitsmarktexpertin Sibyll Klotz auf den fünften Platz gewählt und anschließend mit stehenden Ovationen gefeiert. Als „sicheres“ Ticket für den Einzug ins Parlament gelten die ersten zwanzig Listenplätze.
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