Höllenfahrt im Schicksalstunnel

■ Kurz & Gut: Szenen so sprachlos wie ein Alptraum. Eine Kurzfilmreihe im Babylon

Kurzfilme erzählen nur selten wirklich eine kurze, prägnante Geschichte. In den schlechteren Fällen versuchen Kurzfilmer das Skript, das sie aus Geldmangel nicht in einer 90-Minuten-Fassung verfilmen können, in fünf Minuten zu realisieren. Ein wirklich kurzer Film, der sich bei vielen durch seine geradezu schockartige Wirkung eingeprägt hat, war „Desserts“ von Jeff Stark, der bei der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb lief. Ewan McGregor findet ein leckeres Törtchen am Strand, schaut sich um, beißt hinein und ...

Für viele Regisseure sind Kurzfilme Fingerübungen auf dem Weg zum ersten eigenen Spielfilm. Das Babylon-Ost zeigt in dieser Woche mehrere Kurze von DFFB-Absolventen. Ausgesucht hat die sechs Filme Babylon-Mitarbeiter Karsten Hein. Auch sein eigener Siebenminüter „War Memorial Park“ ist zu sehen. Ein Film, an dem Hein alles in allem drei Jahre gewerkelt hat und der nun bei seiner Premiere unerwartete Aktualität hat. Hein geht es aber weniger um reale Kriege und deren Darstellung in den Medien als um den Kriegs-Genrefilm. Archetypische Kriegsfilmszenen laufen sprachlos ab wie ein Alptraum. Ein ungelenker, massiger Russe hat eine Handgranate im Mund. An dem Zündring ist eine Schnur, an dem der Russe Alexander Selski – Hein nennt ihn den Elefanten – über ein Eisenbahngleis gezogen wird. Wie durch einen Schicksalstunnel rennt der Soldat seinem Leben hinterher. Am Ende ein lauter Knall.

In der nächsten Szene ist dieser Soldat der einzige Überlebende. „Der Feind“ umstellt ein Gebäude. Wieder eine Handgranate, wieder eine Explosion. Letzte Szene: Diesmal segelt eine Handgranate in einen überfüllten Wartesaal. Eine Frau zerrt ihre Kinder zur Flucht, Menschen stürzen übereinander. Der Elefant ist diesmal nicht Opfer oder Täter, sondern Retter: Sein massiger Körper wirft sich auf die Familien, um sie nicht zerfetzen zu lassen. „Wir haben mit dem gedreht, was wir an den Locations vorgefunden haben, wie bei Dogma 95“, sagt Karsten Hein. Eine verwirrende, gedankenschwere Konstruktion, ein Monument, dieser „War Memorial Park“. Gedreht in einem äußerst grobkörnigen Material, Singel-8 von Fuji, inzwischen vom Markt verschwunden.

Die siebenundzwanzigjährige Nicole-Nadine Deppé hat gleich drei Filme im Programm. Von einem zum anderen Kurzen läßt sich hier eine erfreuliche Weiterentwicklung feststellen. Immer spielen Füße und ihre Bekleidung eine Rolle, Spielzeug und Kinder kehren ebenfalls als Motive wieder. Deppé erzeugt vor allem bei ihrem jüngsten Film „Jonas May“ eine erstaunliche Dichte der Erzählung. Der zehnjährige Jonas verliebt sich in die ein Jahr ältere Zoe, die gegen Jonas aber fast abgeklärt und cool wirkt. Die typische unmögliche Jungenliebe eben. Mit selbstgebauten Spielzeugbaggern, Schokolade und anderen Präsenten versucht Jonas seine Traumfrau über eine viel zu breite Berliner Straße mit gefährlichen Autos von ihren Freundinnen weg zu sich, auf seine Straßenseite des Lebens zu locken. Ein Kinderfilm für Erwachsene, der anrührt und in seinen 15 Minuten Lust auf einen Spielfilm weckt. Und der ist natürlich schon in Planung. Karsten Hein arbeitet an einem Drehbuch für Deppè. „Wir suchen noch Sponsoren“, sagt er. Das Babylon selbst wird übrigens ab sofort endlich renoviert und grundinstandgesetzt – vielleicht gibt's dann zur Jahrtausendwende endlich wieder Filme im Saal mit Orgel, statt im Foyer. Andreas Becker

Kurz & Gut: DFFB-Filme u. a., 12./13. 5. und 21. 5. um 19 Uhr im Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg-Str. 30