Theater muß wie eine Kartoffel sein

Interaktive Aufführungen und andere Experimente: Im Kammertheater Neubrandenburg bestimmt der Ensemblegedanke den Alltag wie die Kunst. Aber Erfolg bietet keine Bestandsgarantie  ■   Von Niko Merck

er zu spät kommt, den bestraft... Und manchmal, wenn das Leben besonders hart ist, bestraft es auch diejenigen, die zu früh gekommen sind. Ineffizient und kostspielig seien die Strukturen der deutschen Stadttheater. Belanglos, veraltet, wirklichkeitsleer das meiste, was die hochsubventionierten Bühnen den Zuschauern darböten. So sagen viele. Und wer in deutschen Theatern nach jenem Moment auf die Suche geht, in dem sich alle Gewißheiten des gelebten Lebens durch Spiel und Verwandlung auf der Bühne in ihr Gegenteil verkehren, mag dieser Kritik nicht widersprechen. Und doch gibt es das ganz andere. Hier und da. Und in Neubrandenburg. Wo das Kammertheater sein Wesen treibt. Ein Kollektiv aus Puppen- und Schauspielern, Kollektivwerkern und störrisch Eigensinnigen. Eine kleine, 26köpfige Truppe, fast ohne Apparatewucherung und Arbeitsteilung, vom Markt nicht zu verlokken, dem mecklenburgischen Abseits, in dem sie seit 23 Jahren lebt und experimentiert, Lebewohl zu sagen. Das Kammertheater ist ein Glücksfall, nicht bloß in Nordost. Das merkte kürzlich erst das Publikum des Kinder- und Jugendtheatertreffens in Berlin, das „Eine kleine Hausmusik“ aus Neubrandenburg frenetisch bejubelte. Aber die Kommunalpolitiker im mecklenburgischen Hinterwald merken es nicht.

Das Kammertheater ist billig, es arbeitet mit drei Millionen Mark Zuschuß im Jahr. Das Kammertheater ist vorbildlich effizient im Umgang mit Geld. Die Subvention pro Besucher beläuft sich gerade einmal auf die Hälfte dessen, was die benachbarten Theater brauchen. Es ist international erfolgreich. Preise und Festivaleinladungen heimsen seine Produktionen zuhauf ein. Hilft alles nichts. Das Kammertheater solle doch bitte in Zukunft ein Lebensmittel werden für seine Zuschauer, forderte unlängst der zuständige Stadtrat, solle so unverzichtbar werden wie eine Kartoffel. „Eigenwillig“ nennt man solche Äußerungen in Meck-Pomm. Daß Theater wie Fußball sein müsse, hatte man schon gehört, aber wie eine Kartoffel...?

Naturgemäß zielt die so verklausulierte Kritik auf die notorische Experimentierlust des Kammertheaters. Ein Theaterstück ohne Worte, nur mit Geräuschen und merkwürdig verzweifelt dargebotene Volksliedern, wo gibt es denn sowas? In Neubrandenburg gibt es das. Schräge Gestalten geistern in der „Kleinen Hausmusik“ durch einen Plattenbau (aus Holz), und wenn ein Fremder sich in die sechs Zimmerbutzen drängt, flattern ihreBewohner seltsam aufgeregt ins Freie. Oder sie reißen Tapeten von den Wänden und gebärden sich wie Marionetten, vielleicht auch wie Kraftfische in einem Trockenbassin. Genauso weit entfernt vom einfältig gewünschten Wahren, Schönen und Massenerfolgsträchtigen entfaltet sich auch der „Reigen“, im weitesten Sinne nach Arthur Schnitzler.

Im „Reigen“, dem Auftakt zu einem „Neuen Deutschen Theater der Unwahrscheinlichkeit“, sind die Rollen doppelt und dreifach besetzt, jeden Abend wechseln die Darsteller. Und weil es keinen Regisseur gibt, sämtliche Schauspieler ihre Rollen für sich alleine vorbereitet haben und der hundert Jahre alte Text allenfalls als Kompaß dient, ist für Überraschungen gesorgt. Dem Unerwarteten den Boden bereiten, die Rollen von Zuschauern und Schauspielern nachhaltig durcheinander zu wirbeln, ist die Absicht. Weshalb die zehn Schauspieler gleichsam als Stellvertreter des Publikums, aber eingriffsbereit, auch dann auf der Bühne bleiben, wenn sie nicht unmittelbar mitspielen.

Trotzdem kann es vorkommen, daß den Spielern nichts einfällt und auch die Impulse der Mitarbeiter am Bühnenrand ausbleiben. Das Scheitern wird dann, gut schlingensiefsch, zur Chance. Denn wie jede Inszenierung in Neubrandenburg ist auch der „Reigen“ ein work in progress. Morgen schon wechselt die Besetzung und alles kann ganz anders sein.

Gleichwohl ist das Spiel mit der beobachtenden Teilnahme durch die Kollegen Mitschauspieler bloß eine Notlösung. Das Theater als Ort des Unvorstellbaren, das Ideal vom „Lebensspielplatz“, das im Kammertheater kultiviert wird, sähe anders aus. Dazu müßte der unüberbrückbare Graben zwischen Zuschauerraum und Bühne fallen. Das Publikum müßte selbst in das Spiel eingreifen. Doch wie die Schauspielkunst wäre auch diese Zuschaukunst ein full time job. Subventions- weil trainingsbedürftig wie jede andere Kunst. Solange dieser massenwirksam zuletzt von Karl Marx propagierte Zustand allseitiger Qualifikation einer besseren Zukunft anheim gestellt bleibt, spielen die Zuschauer im Theater weiter die Rolle der Konsumenten. Und beiden Seiten, den Darstellern wie dem Publikum, bleiben die wahrhaften Überraschungen erspart.

Man kann sich ausmalen, wie wenig Interesse kurzsichtige politische Kulturverweser an derlei Kunstücken vertikaler Vernetzung haben. Noch besser jedoch kann man die östliche Rede nachvollziehen, die da lautet, wo früher die von oben verordnete Ideologie die Theaterkunst bedrückte, erfülle heute das fehlende Geld die gleiche Funktion.

„Es ist gut daß ich/ Hier her gekommen bin zu einer/ Stelle der Welt wo ich/ Nachdenken konnte drei Minuten lang/ Jetzt/ Können wir weggehen“. Der Satz aus Brechts Fatzer-Fragment sollte den Neubrandenburger Notabeln eine Warnung sein. Denn die künstlerischen Produktivkräfte sprudeln nicht eben üppig im mecklenburgischen Innenland. Neubrandenburg, der ehedem jüngsten Bezirksstadt der DDR, ist die ganz und gar künstliche Situation ihrer bürosozialistischen Aufpäppelung bis heute anzumerken. Die Philharmonie, das Volkstanzensemble, eine Handvoll Jazzer, Maler und Literaten prägen die örtliche kulturelle Szene. Ohne die Aktivitäten des Kammertheaters, die vomFeuerwerkstheater über Fastnachtsumzüge bis zum jährlichen Leibspeisentheater reichen, drohte der Wald wieder in die Stadt zurückzukehren.

Aber noch ist es nicht so weit. Im Gegenteil. Noch spinnt das Kammertheater unbeirrt seine Netze. Institutionalisiert ist mittlerweile die Zusammenarbeit mit Cousinen und Cousins vom Berliner Theater o.N.. Sie hatten 1976 zu den Gründern des Staatlichen Puppentheater Neubrandenburg gehört, dessen zweite Generation heute im Haus in der Pfaffenstraße den Kern des Ensembles bildet. Die Pioniere um Gabriele Hähnel, Iduna Hegen und Werner Hennrich waren 1980 als Gruppe Zinnober in den DDR- Theater-Untergrund ausgezogen, aus dem sie als Theater o.N. erst nach 1989 wieder auftauchten.

Gemeinsam mit ihren Nachfolgern am Kammertheater erkunden die einstigen Rebellen neue Phantasie-Nischen im Dickicht der Gegenwart. Die finden sich zuvörderst im Kindertheater, „Kinder sind für uns viel wichtiger als die Erwachsenen“, sagt Kammerdramaturg Matthias Wolf, „Kindern kann man nichts vormachen.“ Das zeigt sich wenn Vadder und Mudder Schulten vom „Froschkönig“ erzählen oder samstags in der „Märchenkammer“ Kinder und Schauspieler gemeinsam Zukunft trainieren. Da mischen sich die Kleinen selbstverständlich und lautstark ins Spiel ein. Man braucht sie nicht einmal aufzufordern.Schade, daß ausgerechnet das Angebot für Kinder Schaden nehmen wird. Denn in den Zeiten der Krise rächt es sich, daß die Kammerleute schon „vor der Zeit“, eben „zu früh“ zukunftsfähige, „schlanke Strukturen“ angestrebt hatten. Die Personalkosten niedrig zu halten, um mehr Geld für die Kunst zur Verfügung zu haben, lautete die Devise. Doch diese „freien“ Mittel werden allzu leicht ein Raub der Sparpolitik. Fast 100.000 Mark, zehn Prozent des Produktionsetats, sind im diesjährigen Finanzgerangel abhanden gekommen. Und dem Kammertheater bleibt nichts übrig, als fürderhin weniger für die Kleinlinge zu tun. Denn bei den niedrigen Eintrittspreisen für Kinder „lohnen sich“ solche Produktionen am wenigsten. Ob das gewollt war?

Gewiß nicht. So wird die Kommunalpolitik lernen müssen, daß sie in ihrem blutroten, barocken Comoedienhaus ein Juwel beherbergt, das sorgsamer Pflege und Obhut bedarf. Denn eins ist gewiß: bevor die Kammertheaterleute davon ablassen, auch weiterhin die Pfade des Eigensinns in der MacGegenwart auszuschreiten, gehen sie lieber zurück in ihre marode Drei- Raum-Wohnung, aus der sie einst ins Freie der Kunst aufgebrochen sind.