Abschied ohne Wehmut

In Gorleben sind die Bürgerinitiative gegen Atomkraft und die Grünen identisch. Was ist, wenn die BI wegen der drohenden Castor-Transporte die Partei verlassen will?  ■   Von Heike Haarhoff

usanne hat „massiv Probleme“ mit dem Begriff „Sack“. Eine Solidaritätskampagne gegen Castor-Transporte, mault sie nun schon zum dritten Mal, könne keinen Namen tragen, „der in der Bundesrepublik ein Schimpfwort ist“. So gut die Idee ja sei mit den 20.000 aufgeschichteten Sandsäkken und der Aufschrift „Stoppt die Atomflut“ als symbolischer Wall gegen die Atommülltransporte. Uli findet, „der Sack muß einen Namen haben“, und Matthias, sichtlich angespannt, hat sogleich einen parat: „Uli.“

Nicht einmal hysterisches Kichern vermag der schlechte Witz der 25köpfigen Runde zu entlokken. Im Wendland gibt es dieser Tage wenig zu lachen. Weder bei den Bürger-, Friedens- und Anti-Atomkraft-Initiativen noch bei den Grünen, die sich an diesem Abend mit ernsten Mienen zur Lagebesprechung im gutbürgerlichen „Lindenhof“ in Breselenz eingefunden haben. Die vage Hoffnung, daß mit der Wahl Jürgen Trittins zum Bundesumweltminister die gelben Transparente mit dem großen schwarzen X weggestellt werden könnten, hat sich zerschlagen im ehemaligen Zonenrandgebiet zwischen Lüchow und Dannenberg.

Ein bis zwei Castor-Transporte aus der französischen Wiederaufarbeitungsanlage in La Hague will der grüne Minister noch in diesem Jahr in die Salzstöcke nach Gorleben zwingen. Mindestens 110 weitere sollen in den nächsten zehn Jahren die deutsch-französische Grenze passieren. Von der „völkerrechtlichen Pflicht“, deutschen Müll aus deutschen Atomkraftwerken zurückzunehmen, ist die Rede und davon, daß es aufgrund „genehmigungstechnischer Zwänge“ derzeit keine Alternative zu Gorleben gibt.

Aber Marianne Fritzen interessiert das alles sowieso nicht mehr. Irgendwie hausbacken im grünen Strickpulli wirkt die Chefin der Grünen im Kreistag von Lüchow-Dannenberg, „die Vorsitzende“, berichtigt sie. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt an diesem Abend der fast militärisch organisierten Planung: die Mobilisierung der Basis für den nächsten Castor-Transport, der präzise Zeitplan, die Abwägung, welche Streckenführung die wahrscheinlichste ist, und der stete Versuch, Polizei und Ministerium trotz ihres Informationsvorsprungs auszutricksen. Das ewige Katz-und-Maus-Spiel. Was sind da schon die Grünen?

Bitter, keine Frage, daß eine CDU-Ministerin die Atomtransporte vor einem Jahr stoppte und ausgerechnet ein grüner Minister sie nun wieder aufnehmen wird. Dennoch sitzt Marianne Fritzen so entspannt da, als habe sie insgeheim damit gerechnet, daß es so kommen mußte. Damit, daß es ihr Parteifreund Trittin sein würde, der die Menschen im Wendland brüskiert, und auch damit, daß sie ihn nach 20 Jahren als Mitstreiter gegen Gorleben offensichtlich abschreiben muß. Na und? „Meine Wurzel war immer die BI.“ Die Grünen, Marianne Fritzens prominente Stellung innerhalb der Partei, das kam später und eher zufällig, als die BI erkannte, daß ihre Ziele parlamentarische Vertreter brauchten und sich zunächst keiner fand.

Sie überlegt. „Trittin spricht zwei Sprachen.“ Das klingt weder resigniert noch zornig. Es ist eine Feststellung. So sachlich wie ihr Entschluß, daß der nächste Castor die „Nagelprobe“ wird. Daß sie, sollte er tatsächlich rollen, nach 20 Jahren Mitgliedschaft, Kreisvorsitz und zermürbender ehrenamtlicher Selbstausbeutung – „keinen Pfennig haben wir gekriegt von der Partei, nicht mal für unser Regionalbüro“ – hinschmeißen wird bei den Grünen. Wie übrigens die Mehrheit im Grünen-Kreisverband Lüchow-Dannenberg.

Es wird ein Abschied ohne Wehmut. Die Grünen – ein Irrtum? Da sagt sie bloß: „Ich sehe nicht, weshalb ich bleiben sollte, wenn die Grünen plötzlich Sachen vertreten, gegen die wir 20 Jahre auf die Straße gegangen sind.“ Es ist der gleiche resolute Ton, in dem Marianne Fritzen jetzt ihrer BI vorschlägt, daß sie am „Tag X“ den Sack lieber ohne Sand und als Rucksack schultern würde. Immerhin ist die Frau vor zwei Wochen 75 geworden.

Marianne Fritzen, eine politische Biographie ohne Brüche, so scheint es, selbst im Privaten. „Ich wohne in dem Haus hinter der Mühle mit dem Schild Freie Republik Wendland“, hatte sie am Telefon gesagt. Die Postbotin ist beeindruckt. „Mensch, Frau Fritzen, hab ich Sie neulich im Fernsehen gesehen, wie der Joschka Fischer Sie massiert hat?“ Marianne Fritzen schlägt die Hände vors Gesicht und will gar nicht mehr aufhören vor Lachen. „Bei der Bundesdelegiertenkonferenz war das“, gluckst sie, da hat sie gekeift, daß die Grünen „uns Alte“ zuwenig ernst nähmen. Und Fischer, wie um sie zu beruhigen, habe sich zu ihr hinabgebeugt. „Aber massieren? Pah!“

Auf dem Wohnzimmertisch eine gewebte Entendecke, im Hintergrund zwischen überquellenden Bücherregalen Glasvitrinen, liebevoll mit kunsthandwerklichen Figuren dekoriert. Nur Marianne Fritzen ist alles andere als heimelig zumute. „Müssen eigentlich alle Journalisten die gleichen stereotypen Fragen stellen?“

So wie die etwa, ob der Trittin nicht in einer atomrechtlichen Zwangslage stecke? „Ist mir doch egal, ich bin nicht die Ministerin.“ Und kratzbürstig: „Ich habe auch kein Erbarmen“, sie gerät in Fahrt, „ja, ich maße mir nicht einmal an, eine moralische Verpflichtung zu spüren, mitzuüberlegen, wohin der Dreck soll.“ Wirklich nicht? Da wird sie ernsthaft ungehalten. „Ich kann nicht 20 Jahre auf die Straße gehen und dann sagen, herrlich, Jürgen, ich weiß, du kannst nicht anders. Für mich ist das nicht tragbar. Aus!“

Im „Lindenhof“ probiert es Matthias noch einmal. Was bringt es, sich beleidigt zurückzuziehen? Es könne ja, lenkt er also ein, „einen Beipackzettel zum Sandsack“ geben, um Mißverständnisse „mit Sack und so“ zu vermeiden. Wenn denn dieses Zugeständnis Susanne und die anderen von der Sinnhaftigkeit der Kampagne überzeugte. Eineinhalb Jahre haben Matthias und die Mediengruppe sich den Kopf zerbrochen über eine originelle Strategie, um für Solidarität und vor allem um Geld zu werben. Der Zustand der BI-Kasse ist bedrückend.

Heinrich Messerschmidt weiß es auch nicht. Verschwitzt und in Handwerkerkluft kommt er aus dem Keller gekeucht. Daß die anderen immer soviel Zeit zum Reden haben, in der BI, bei den Versammlungen der Grünen. Und er kommt kaum dazu, seine alten Möbel aufzuarbeiten. Oder mal den Garten – „ja, das ist der ewige Streit mit meiner Frau“. Er fährt sich durch die weißen Haare. Er schafft es einfach nicht. Nicht mal zur Sitzung heute im „Lindenhof“ in Breselenz.

Dabei müßte er doch als Rentner Zeit haben. Aus diesem Grund ist er ja auch erst mit 64, sechs Jahre ist das her, bei den Grünen eingetreten und nicht schon früher. Freilich hatten ihn schon seit langem viele Dinge „stutzig“ gemacht. Als ehemaliger Technischer Leiter des Bauamts von Lüchow besaß er schließlich „zentrale Informationen“ über das geplante „nukleare Entsorgungszentrum“. Aber erst seit er nicht mehr im Beruf ist, hat er Muße gefunden für das Studium wissenschaftlicher Aufsätze über Gamma- und Neutronenstrahlung, langzylindrische Edelstahlkapseln oder Langzeit-Trockenlagerbehälter. „Es geht nicht um mich, es geht um meine Enkel.“ Aber die haben auch keine Zeit, deswegen liest er für sie, jeden Tag. Er ist an den Punkt gelangt, „heute sagen zu können, ich bin nicht nur emotional dagegen, sondern ich weiß auch, warum.“

Seitdem verfaßt er juristische und strahlenwissenschaftliche Abhandlungen, über „Einzuleitende Sofortmaßnahmen vor Paraphierung eines Ausstiegsgesetzes aus der Atomenergie“ etwa. Und schickt seine meist handschriftlichen Ausarbeitungen ins Bundesumweltministerium. Schließlich können die dort nicht alles wissen.

Was ihn nur so wurmt, sagt Heinrich Messerschmidt, ist, „daß der Jürgen sich nie bei mir meldet“. Nicht, als er ihn mahnte, daß Brennelemente im Containment unter Wasser besser aufgehoben seien als in Castor-Behältern. Nicht, als er schrieb, er sehe es überhaupt nicht ein, Glaskokillen im Wendland zu stationieren, wo doch die Franzosen „das große Geld mit der Wiederaufarbeitung verdient“ hätten.

Lange wird sich Heinrich Messerschmidt dieses Spielchen nicht mehr angucken. „Wenn der nächste Castor kommt, das ist dann wirklich der Verrat.“ Dann wird auch er den Grünen den Rücken kehren. Bange ist er nicht. „Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich aus einer Partei austrete.“ Anfang der 80er Jahre verließ er die SPD; seine Kumpels von der Gewerkschaft hatten ihm die Mitgliedschaft zuvor schmackhaft gemacht. Und dann? „Taktiererei, Wahlmanipulation, Gerede.“ Heinrich Messerschmidt winkt ab.

Sein Sohn hat ihm vor Wochen ein Handy geschenkt, damit er auch auf den Demonstrationen oder im Keller erreichbar ist. Es wäre Zeit, überlegt der Vater, sich der Betriebsanleitung zu widmen.

Es gibt Informationen, wonach die Behelfsbrücke über die Jeetzel unweit des Zwischenlagers in Gorleben bis zum Juli neu errichtet werden soll. Ein einschlägiger Hinweis, daß dann der Castor-Transport ansteht, vermutet die Runde im „Lindenhof“. Die Zeit drängt also.

Aber August Quis mag noch nicht daran denken. Selbst vor den Schwarzweißaufnahmen scheut es ihn. Wohlgeordnet liegen sie in einem Pappkarton, Dokumente vergangener Blockaden. August Quis im Anorak, im Wollpulli, mit Mütze, mit wehendem weißem Haar. In jedem Fall immer in der ersten Reihe, im Schneidersitz. Im nächsten Jahr wird er 80. Polizisten mit Schlagstöcken und Schildern hat das nicht gehindert, ihn beim letzten Castor vor der Linse einer Pressekamera wegzuzerren. „Ich finde das Foto eigentlich nicht so schön“, sagt August Quis.

Lieber möchte er auf seinem Balkon vor der Kanadischen Felsenbirne für die Zeitung abgelichtet werden. Und vor der Weite des Wendlands. „Das ist mein Bebauungsplan“, grinst er. Eines seiner ersten stadtplanerischen Werke als junger Kreisbaudirektor in Lüchow.

Es war eine Zeit, als Gorleben bestenfalls innerhalb der engen wendländischen Grenzen bekannt war und Menschen wie der Architekt August Quis, die gegen Nato und Wiederbewaffnung und deshalb Mitglied in der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher AUD waren und aus der Großstadt kamen, es im konservativen ländlichen Milieu eher schwer hatten.

Wenn sich der hagere Mann an diese Zeit erinnert, legt sich die Stirn in noch tiefere Furchen. Er rückt ein Stück näher. Die Ohren waren auch mal besser. Bei der Gründung der Grünen, 1977, kurz nach der Standortbestimmung von Gorleben, war er selbstverständlich dabei. Wenn auch aus anderen Gründen als die meisten anderen. „Ich muß gestehen: Ich hatte als Baudirektor den Standort Langendorf für ein Atomkraftwerk ausgesucht.“ Denn „so ganz ohne friedliche Kernenergienutzung“, dachte er damals, „geht es nicht“.

Nur die Sache mit dem Landschaftsbild machte ihm Sorgen. „Da sollte ein Gebäude entstehen so groß wie die Lüchower Altstadt. Ich empfand es als meine Pflicht, die Leute darüber zu informieren.“ Sein Blick wandert über die Hügellandschaft. Schrecklich, wenn die weg wäre. Der „totale Sinneswandel“ in Sachen Atomkraft kam erst später, während einer Besichtigung nach einem Betriebsunfall in Würgassen. „Da wußte ich, es ist ein Verbrechen, und ich muß etwas dagegen tun.“

Bei den Grünen austreten etwa, weil die den Castor auf den Weg schicken? „Der Castor ist nicht der Grund.“ Wohl aber die Tatsache, „daß der schnelle Ausstieg nicht geklappt hat“.Er betrachtet das Foto von der Sitzblockade schließlich doch. Er weiß, es wird diesmal nicht einfacher werden. Aber er weiß auch, er wird die anderen nicht hängenlassen mit ihren Sandsäcken. Ob mit oder ohne Beipackzettel. Da muß er doch ein wenig grinsen.„Ich lasse mir von keiner Partei diszipliniertes Verhalten vorschreiben.“