: „Ist das jetzt die Rache, die Kollektivstrafe?“
■ E-Mail aus Belgrad, Teil 6: Die taz dokumentiert in loser Reihenfolge die Briefe der 24jährigen Studentin Andjela an ihre Freunde beim Augsburger Jugendmagazin „X-Mag“. Und je länger der Krieg dauert, desto öfter muß die junge Oppositionelle an Sarajevo denken
Lieber Albert,
die erste Nacht, in der in Serbien der Strom ausfiel, war ich das erste Mal so richtig verzweifelt. Stell Dir mal eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern in völliger Dunkelheit und Stille vor. Eine unheimliche Stille, die nur von weit entfernten Explosionen unterbrochen wird.
Mein erster Gedanke war: Wie lange wird es dauern? Stromausfälle sind leicht zu beheben, wir sollten in ein paar Stunden wieder Licht haben. Oder vielleicht nicht? Vielleicht ist ein Kraftwerk getroffen worden, vielleicht alle, wer weiß das schon? Man konnte ja nicht den Fernseher einschalten und schauen, was los war. Die Gedanken rasten hysterisch durch meinen Kopf. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt.
Dann erinnerte ich mich an Sarajevo, und von diesem Moment an konnte ich an nichts anderes mehr denken. Dort hatten sie für Jahre keinen Strom, Telefonleitungen waren genauso unterbrochen wie die Wasserversorgung.
Ich erinnerte mich an die Erzählungen meiner Verwandten, die dort immer noch leben. Wie sie kilometerweit laufen mußten, nur um Wasser zu holen und Wäsche zu waschen. Ist das nun die Rache? Sind nun wir mit dem Leiden an der Reihe? Manche sagen, daß alle Serben für das, was in Bosnien und Kroatien passiert ist, die „Kollektivschuld“ auf sich nehmen müssten. Und daß manche sich nun über unsere Not freuen.
Das ist ein harter Standpunkt, trotzdem könnte Wahrheit drinstecken. Aber fühle ich mich schuldig? Nein. Habe ich alles in meiner Macht mögliche getan, um dem Staatsregime – während der Studentenproteste – meine Abneigung zu zeigen? Ja. Bin ich diejenige, die bombardiert wird und ohne Elektrizität auskommen muß? Ja. An der Logik in dieser Kette kann etwas nicht stimmen.
Mir ist vollkommen klar gewesen, daß mich diese Grübelei verrückt machen würde. Trotzdem konnte ich nicht damit aufhören. War es nur die Panik davor, mir nicht mehr jeden Morgen eine heiße Tasse Kaffee machen zu können? Oder war es Selbstmitleid?
Ich nahm meine Kerze und ging um 10 Uhr abends zu Bett. Wir haben so hübsche Kerzenhalter in unserem Haus, nun haben sie endlich ihren Sinn erfüllt.
Zwei Überraschungen erwarteten mich beim Aufwachen: Nicht nur, daß der Strom immer noch weg war, jetzt war auch kein Wasser mehr da. Ich packte meine Sachen zusammen und ging ins Stadtzentrum zur Wohnung meines Großvaters, um zu duschen. Dort gab es auch schon wieder Strom.
In den Nachrichten hieß es, daß die Nato mit ihrem neuen Spielzeug gespielt hätte. Sie nennen es „weiche Bombe“. Damit streuten sie Graphit auf die Kraftwerke und erzeugten Kurzschlüsse.
Ich habe ein feines Gespür für das Absurde, aber wenn mir jemand erzählt hätte, daß die Nato nur ein paar Tage später die chinesische Botschaft in Belgrad zerstören würde, hätte ich es für Science-fiction gehalten.
Passiert ist es dennoch, und seitdem ist mir klar, das alles möglich ist. Falls General Clark morgen früh mit dem falschen Fuß aufsteht, entschließt er sich womöglich, Peking zu beschießen. Ich wäre nicht überrascht. Peking rächt sich dann und schmeißt eine Atombombe auf New York City.
Inmitten meiner apokalyptischen Visionen begann das lokale Fernsehstudio B vom nahenden Ende des Krieges zu berichten. Das kam für mich wie ein Schock. Natürlich könnte es ein weiterer Fehlalarm sein, aber das Fernsehen schien noch nie so überzeugt von seinen Informationen. In diesem Land regiert das Fernsehen. Deshalb habe ich mich daran gewöhnt, es als Person zu betrachten: Der ultimative Präsident, das alles erfassende Auge.
Seit der Krieg begonnen hat, hat die Enttäuschung all meine anderen Gefühle in den Hintergrund gedrängt. Ich bin so hochnäsig geworden. All das „sich nicht darum kümmern, was als nächstes passiert“, hat mich betäubt, obwohl ich mir sicher bin, daß der dumpfe Schmerz in meinem Magen psychosomatisch ist. Eine Beruhigungspille läßt ihn verschwinden.
Neulich betrachtete ich einige alte Fotografien, die gemacht worden waren, als ich noch ein kleines Mädchen war. Lächelnd und sorglos, noch in den Zeiten von Titos „Bruderschaft und Einheit“-Gerede, das sich im nachinein ebenfalls als Lüge erwies. Aber wenigstens hatten wir etwas, auf das wir hoffen konnten.
Wer hätte gedacht, daß wir in einem zerrissenen, zerstörten Land enden würden.
Ich wünschte, es gäbe eine Pille, die die letzten zehn Jahre verschwinden läßt.
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