Ein wunderliches Phänomen

Ihre Stimme ist unglaublich, und so naiv und gleichzeitig authentisch war niemand vor ihr. Eine Pop-Diva ist sie nicht, doch Jewels Erfolg ist unendlich  ■   Von Thomas Winkler

Der Konzertsaal der Hochschule der Künste ist und bleibt ein wunderlicher Ort. Wenn der altehrwürdige Gong erklingt, werden halbe Bierflaschen auf einen Zug geleert, Restzigaretten eingeatmet und wird schnell der numerierte Platz eingenommen. Auch der populären Musik werden hier die Rituale der Aufführungen aufgenötigt, für die der Saal ursprünglich einmal ausschließlich erbaut wurde.

Wunderlich ist auch das Phänomen Jewel: Top-ten-Hits in den USA und fünfmal Platin für „Pieces of You“, das eher unfertige Debütalbum eines Teenagers, das weltweit mehr als zehnmillionenmal verkauft wurde; anschließend ein zwei Millionen Dollar schwerer Buchvertrag über zwei Poesiebände, der sie vermutlich zur bestbezahlten Lyrikerin aller Zeiten macht; schließlich noch die Hauptrolle in Ang Lees bereits abgedrehtem Film „Ride With the Devil“, in dem sie eine Bürgerkriegswitwe spielt. Die Erfolgsgeschichte ist unendlich, Jewel Kilcher dürfte in ihrer Heimat die finanziell erfolgreichste Sängerin der Gegenwart sein.

Aufgrund ihrer Kindheit in Alaska – ohne Strom, fließend Wasser, TV oder Radio, aber mit Trapper-Großvätern, einem Haufen Mormonen in der Familie und einem Singer/Songwriter-Elternpaar – war sie schnell als Neo-Hippie und Folk-Tante abgebucht. Auch ihr zweites und aktuelles Album, „Spirit“, änderte an dieser Einschätzung nicht viel.

Die HdK ist ein wunderlicher Ort, ausgerechnet ein solches Vorurteil wiederlegen zu wollen. Doch sie hat sich eine Combo aus Musikprofis engagiert, offensichtlich verdiente Studiomucker, die sich dann auch exakt so anhören. Die noch die stillsten Momente mit einem Breitwandsound zu Tode schleimen. Das allerdings unter tätiger Mithilfe von Jewel selbst, die es sich nicht nehmen läßt, hin und wieder mit einer dritten Gitarre den Brei komplett zu machen. Hier will jemand nicht mehr das sein, wofür alle sie halten, sondern lieber – sagen wir mal Melissa Etheridge. Sie will das so sehr, daß sie gegen die Gesetze der Mauern angeht und das Publikum von den Sitzen bittet. Man kann ja verstehen, daß ein junger Mensch nicht gern festgelegt werden möchte, aber muß man dabei zuhören? Absurderweise endet die Revolte gegen die öffentliche Meinung ausgerechnet im Mainstreamrock.

Ewig zuhören könnte man, wenn sie ihre Witze reißt, die Geschichte von der absurden Odyssee nach Mexiko erzählt oder wie sie mit Baby Spice verwechselt wird. Ihre Talente als Stand-up-Comedian sind offensichtlich, doch sie selbst vertraut hier und heute nur selten darauf. Lieber wieder schnell ein neuer Song, die Mucker wollen bei Laune gehalten werden.

So sind die schönsten Momente die, wenn sie allein mit Gitarre auf der Bühne steht, wenn ihre Stimme, die live noch unglaublicher als auf Platte ist, wirklich im Mittelpunkt steht und nicht dieser überflüssige Versuch, etwas anderes sein zu wollen, als das, was sie ist. „Pieces of You“, deren Songs sie schrieb, bevor sie 20 wurde, hält sie inzwischen für „ultimativ peinlich, als würde man seine dreckige Wäsche verschicken“. Deshalb wurde diese Platte so groß, weil sie undenkbar ist ohne die Vergangenheit in Alaska, ohne all die Anekdoten und Gerüchte, ohne die Affäre mit Sean Penn, ohne die Geschichte, daß sie ein paar Tage von Ottawa-Indianern adoptiert war. So naiv und gleichzeitig authentisch war niemand vor ihr. Auch live werden mögliche Mißverständnisse vorsorglich aus dem Weg geräumt: Mit „Only Kidding“ wird mancher Scherz entschärft.

Dann erzählt sie, daß ihre Plattenfirma sie zum Therapeuten geschickt hat, weil sie in letzter Zeit nur mehr Country-Songs schreibe. Nun müsse sie täglich aufsagen: „Ich werde eine Pop-Diva werden. Ich werde eine Pop-Diva werden.“ Auch das ein Scherz. Natürlich ist es ein Scherz: Plattenfirmen mögen ja keine Ahnung von Musik haben. Aber was Geschäftemachen angeht und was die Stärken des Produkts sind, da kennen sie sich aus.