: Vorsicht, Hochwassergefahr!
Der Trend zum Unheimlichen: Eine Fotoausstellung in Winterthur widmet sich einer Welt aus Doppelgängern, seelenlosen Ichs und Retortenbarbies ■ Von Andreas Bauer
Freud hat es schon immer gewußt: Was der Analytiker schwer beackern muß, fällt dem Künstler im Schlafe zu. Wie sein psychoanalytisches Pendant liest er die Welt gegen den Strich, deckt Verdrängtes auf und beschreibt traumatische Konflikte. Daß die so gewonnenen Erkenntnisse mehr als nur individualpsychologisch gelesen werden können, versucht eine Ausstellung im Fotomuseum in Winterthur zu zeigen. Zu sehen sind Bilder des italienischen Shooting-Stars Vanessa Beecroft, von Natascha Lesueur, Anna Gaskell, Dana Hoey und Wendy McMurdo. Es sind Fotografien, die Kurator Urs Stahel an jenes „Unheimliche“ erinnerten, das Freud im Jahr 1919 beschrieb. Unter diesem Begriff verstand Freud ein einst Vertrautes, das Geheimnis bleiben sollte, nun aber hervorgetreten ist. Ein „unheimliches Gefühl“ konstatierte er bei der Begegnung mit Doppelgängern und seelenlosen Wesen, beim Ich-Vertauschen oder der Wiederkehr des Gleichen.
Den Schauer des Unheimlichen machten sich nicht nur die Romantiker des 19. Jahrhunderts zunutze. Auch die Surrealisten, bis hin zu Trash, Gothic und allem Horrorhaften von „Frankenstein“ bis „Scream“. Nun hat es wohl auch die Fotografen erwischt. Am typischsten findet es sich in den Werkserien der Amerikanerin Anna Gaskell: „Wonder“ geht direkt auf „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll zurück. In einer Achterbahn verschiedener Größenverhältnissse und Perspektiven stürzt Alice in eine beklemmende Reise. Blüten der Unschuld fallen auf weiße Strumpfhosen, es kommt zu Selbstverstümmelungen und der Begegnung mit einer Doppelgängerin, die sie in einen Kampf verwickelt – oder ist es doch eine Umarmung? Wer ist wer? Das Close-up der Emotionen in gesättigten blauen und gelben Farbtönen, herabfallenden Linien und starken Kontrasten ist aufgeladen mit Entsetzen, Erotik und unmittelbarer Bedrohung. Die Sequenz wirkt auch wie ein Kommentar zu Dorothea Dieckmanns Romanversion des Märchens, in der eine gewisse Belice, die Schwester von Alice, eine bizarre Männerwelt kennenlernt.
Das Motiv des Doppelgängers taucht auch in den Fotografien von Wendy McMurdo auf. Auf karger Bühne, die spärliche Reminiszenzen des Alltags aufweist, konfrontiert sie Kinder mit dem eigenen Spiegelbild. Neugierig betrachten sie sich. Aber wo ist das Original, oder sehen wir doch richtige Zwillinge? Spuren der digitalen Bildbearbeitung sind auf den Fotos nicht zu erkennen, doch seltsam schwebend verharren die Kinder in sinnentleerten Posen an imaginären Computern oder Klavieren. Multiple Persönlichkeiten in einer künstlichen Raumwelt.
Bei Dana Hoey sitzt eine Frau lachend am Frühstückstisch. Der große Kaffeefleck auf ihrem T-Shirt läßt ihr Lachen allerdings gefrieren. Tatsächlich ist auf den Bildern der amerikanischen Fotografin meist nicht genau zu sehen, was passiert ist. Eine Vergewaltigung? Ein Spaß? Ein Schlag oder nur ein freudlicher Klaps? Vieles bleibt in der Unschärfe, versagt sich eindeutiger Codierung, so wie in ihren Bildern die Gewalt zuletzt auch nicht auf männliches Verhalten beschränkt ist. Hoeys Aufnahmen sind gleichsam Schnappschüsse der Beunruhigung. Von allen ausgestellten Fotografien erinnern ihre Bilder am stärksten an jenen ausgetrockneten Teich, mit dem Freud das Unheimliche verdeutlichte, einen Teich, über den man nicht gehen könne, ohne das Gefühl zu haben, daß da bald wieder Wasser zum Vorschein komme. Vorsicht, Hochwassergefahr!
Bei eindeutig surrealistischen Verschiebungstechniken bedient sich Natascha Lesueur. Sie hat Frauenbüsten von hinten aufgenommen und eher unappetitlich mit Blumenkohl-, Spaghetti- und Gurkenornamenten überzogen – Food-art meets Body-art. Einen ganz anderen Weg gehen die unterkühlten „Performances“ von Vanessa Beecroft. Sie zeigt Frauen, die androgyn und völlig emotionslos wie Schaufensterpuppen aussehen. Sie tragen hochhackige Schuhe, falsche Wimpern und Perücken und hocken in engen Nylons gleichgültig im Raum. Sie kommunizieren nicht, verweisen nur auf sich selbst: Tableaux vivants mit geklonten Retortenbarbies. Ähnlich wie bei Magdalena Abakanowicz, die den Körper als tote Hülle in den Raum stellt, betrachtet Beecroft den Körper als Objekt, als einen Körper, der kein Wohnort mehr ist, in dem man sich nicht mehr heimisch fühlt. Bei ihr ist der Körper „unheimlich“ geworden.
Allen Fotografien ist gemein, daß die Identitäten aus dem Gleichgewicht geraten sind, irgendwo zwischen Generation X und Unbehagen in der Kultur. Angesichts von Globalisierung und internationaler Krisen – vielleicht auch Fin-de-siècle-Stimmung – formulieren diese Bilder ein diffuses Gefühl von Orientierungslosigkeit. Der neue Trend zum Unheimlichen? Dabei geht es wohl nicht um gesellschaftskritische Diagnosen. Eher schon, und darauf weist der Katalogtext explizit hin, um einen individualpsychologischen Zustand, der auch ein gesellschaftlicher ist. Kunst, so verstanden, ist eben doch jener Teppich der Penelope: Was tagsüber die Gesellschaft mühsam zusammenflickt, dröselt sie in der Nacht scheinbar schlafwandlerisch wieder auf. „Unheimlich“, bis 24. 5., Fotomuseum Winterthur. Der Katalog kostet 25 Franken
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