Betr.: Sibylle Rothkegel

Die Aktenordner in dem hellen Büro verbergen den Horror: „Bosnien III“, „Bosnien IV“, „Kinder I“ steht darauf. Sibylle Rothkegel ist stellvertretende Leiterin des Behandlungszentrums für Folteropfer (BZFO) in Charlottenburg. Die 51jährige Psychologin und Psychotherapeutin hört fünf Tage die Woche Geschichten von Menschen, die psychisch oder physisch gebrochen sind. Manchmal suchen sie diese Schilderungen als Alpträume heim.

Wenn sie für die Berliner Bündnisgrünen in den Reichstag geht, um den Bundespräsidenten zu wählen, wird sie ihre Arbeit nicht vergessen, ausblenden vielleicht.

Die Psychologin bescheinigt zwar Johannes Rau, daß er als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen „nicht schlecht“ gewesen sei. Trotzdem würde sie lieber eine „Johanna Rau“ wählen. Doch daß es ein männliches Staatsoberhaupt wird, dafür werden die Grünen sorgen. Ganz glücklich scheint sie darüber nicht zu sein. Bruder Johannes sei eben die beste Alternative. Doch eine Hoffnung hat Sibylle Rothkegel: Daß sich Rau bei Phrasen wie „in aller Herren Länder“ als entwicklungsfähig erweisen werden.

Den Nochpräsidenten Roman Herzog hat Sibylle Rothkegel bei seinem Besuch im Behandlungszentrum für Folteropfer als „sehr einfühlsam“ erlebt. In einem Brief zitierte er den Schriftsteller Jean Amery mit dem Satz „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in dieser Welt.“ Er habe sich wirklich „mit dem Thema befaßt“, sagt sie anerkennend.

Das „Thema“, dem sich die blonde Frau mit dem ansteckenden Lachen zusammen mit 23 anderen Mitarbeitern seit fünf Jahren widmet, sind die Schicksale von jährlich etwa 400 Menschen, die die „Geißel des 20. Jahrhunderts“ (amnesty international) am eigenen Leib und an der eigenen Seele erlebt haben. Nach Angaben von ai wird derzeit in 145 Ländern der Erde gefoltert. Die gemeinnützige ambulante Einrichtung, 1992 gegründet und finanziert vor allem durch Geld des Bundesfamilienministeriums, der EU und der UNO-Flüchtlingshilfe, behandelt Menschen aus der Türkei, aus Bosnien und dem Iran.

Sibylle Rothkegel betreut aber auch DDR-Folteropfer: Geschockt seien sie durch den Krebstod des Dissidenten Jürgen Fuchs. Mögliche Todesursache: gezielte Verstrahlung durch die Stasi. Der „gute Folterer“, sagt sie betont zynisch, lasse seine Opfer am Leben, zur Abschreckung.

Dabei werde die Folter immer subtiler: Kinder müßten mitansehen, wie ihre Eltern massakriert werden. Solche Bilder bekommen sie kaum mehr aus dem Kopf. Es war unter anderem die Hilfe für libanesische Kinder und Flüchtlinge, über die Sibylle Rothkegel an ihre Stelle kam. Es ist ein Lebensthema.

Die zweifache Mutter und Großmutter geht auch zur Bundespräsidentenwahl, um auf Folter und die Arbeit des Behandlungszentrums aufmerksam zu machen. Sie könnte sich zwar auch vorstellen, den Sonntag mit ihrer Familie und Freunden zu verbringen. Doch der Posten des Bundespräsidenten sei eben wichtig. Er könne auf Mißstände aufmerksam machen und integrativ wirken. Demokratie ist für Rothkegel „die einzige Staatsform, bei der aktive Beteiligung nötig“ ist. So, wie sie es sagt, klingt es nicht pathetisch. Philipp Gessler