Der postolympische Kater

Ein Jahr nach der Austragung der olympischen Spiele in Nagano ist nicht nur die öffentliche Hand fast pleite, auch im Mittelstand häufen sich die Konkurse  ■   Aus Nagano André Kunz

Es ist ruhig geworden in Nagano. „Zu ruhig“, findet Tsuneo Hotta in seinem Gemischtwarenladen an der Hauptstraße, die zum berühmten Zenkoji-Tempel im Herzen der Olympiastadt führt. Der 71jährige erinnert sich mit glänzenden Augen an die Touristen, die vor einem Jahr seinen Laden überschwemmten. „Jetzt sind wir wieder das kleine Provinzstädtchen mit den paar Pilgern, und das Geschäft läuft schlechter denn je.“ Hotta denkt über die Aufgabe seines Geschäft nach.

Er ist nicht der einzige, der am postolympischem Kater leidet. Die mittelständischen Betriebe der 360.000 Einwohner zählenden Stadt kämpfen mit drastischen Auftragsrückgängen. Am härtesten sind Handwerks- und Baubetriebe betroffen. Immer mehr kleine Firmen gehen in Konkurs. Die Arbeitslosenrate in dieser Berggegend ist mit 7,6 Prozent 3 Prozentpunkte höher als im Landesdurchschnitt und klettert weiter.

„Der wirtschaftliche Impuls für die Gegend war vor und während der Olympischen Spiele recht groß“, räumt Masaki Sato, Ökonom am Wirtschaftsforschungsinstitut von Nagano, ein. Die Aufträge für Zufahrtsstraßen, neue Hotels und die olympischen Stadien hätten damals zu einer Aufblähung der Kapazitäten geführt. Der abrupte Ausfall von Neuaufträgen nach den Spielen war von der lokalen Wirtschaft zuwenig einberechnet worden. Aber nicht nur das Baugewerbe, auch das verarbeitende Gewerbe leidet. Dort fielen 1998 die Kapitalinvestitionen um 30,2 Prozent, doppelt so tief wie im Landesdurchschnitt.

Den größten Schock erlitten allerdings die Familienbetriebe im Tourismusgewerbe. Die Leute, die im vergangenen Jahr mit Geduld und japanischem Charme die 2,5 Millionen OlympiabesucherInnen in ihren kleinen Ryokans bewirteten, mußten dieses Jahr vergeblich auf Gäste warten. Schuld an der Misere war nicht allein die japanische Rezession, sondern eines der am höchsten gepriesenen Infrastrukturprojekte für die Olympischen Spiele: die neue Hochgeschwindigkeitsbahnlinie Shinkansen von Tokio nach Nagano. Skitouristen und Pilger übernachten nicht mehr in Nagano, weil die 80-Minuten-Fahrt mit dem Shinkansen einen Tagesausflug von der Hauptstadt aus ermöglicht.

Die Zimmerbelegung fiel von ehemals 85 Prozent auf 51 Prozent. Der Ertragsausfall hat zu einem Ryokan-Sterben geführt, das dieses Jahr noch verstärkt werden könnte. Hotels in Nagano, die ihre Bettenzahl für die Zeit der Olympischen Spiele nahezu verdoppelt hatten, ziehen eine ähnlich trübe Bilanz. „Trotz einer großangelegten Tiefpreiskampagne der Hotelbesitzer konnten die Belegungsraten nicht verbessert werden“, sagt Eiichi Fueki, Vizemanager im Hotel Kokusai 21. „Olympia war wie ein Taifun – es kam schnell und war genauso schnell wieder vorbei“, erklärt Fueki.

Die Stadt- und Provinzregierung steht dieser „doppelten Rezession“ mit gebundenen Händen gegenüber. Die öffentliche Hand hat sich mit der Erstellung der olympischen Infrastruktur derart überschuldet, daß kein Geld mehr für Förderprogramme vorhanden ist. Allein der Unterhalt der schlecht genutzten olympischen Bauten kostet mehr als 50 Millionen Mark im Jahr. Dazu gehört auch die schnellste Bobbahn der Welt, die in diesem Winter gerade für einen einzigen internationalen Wettkampf gebraucht wurde.

Völlig falsch kalkuliert hat die Provinzbehörde auch den Verkauf von 1.032 Wohnungen, die im Olympischen Dorf für die Unterbringung der Athleten, Journalisten und Funktionäre gebaut wurden. Ursprünglich sollten die Wohnungen binnen Jahresfrist veräußert sein. Nicht einmal die Hälfte wurde indes verkauft, und nun will die Provinzregierung 24 einheimische Baufirmen zur Übernahme von 100 Wohnungen zu Preisen um die 500.000 Mark zwingen. Ein offener Streit zwischen den ohnehin gebeutelten Baufirmen und der Provinzbehörde ist ausgebrochen, der höchstwahrscheinlich in ein langjähriges Justizverfahren mündet.

Die eigentlichen Gewinner in Nagano sind nur die Großinvestoren. Dazu gehört der als „Mr. Nagano“ bekannte Soichiro Yoshida, Betreiber einer Tankstellen- und Supermarktkette. Er profitiert vom Mehraufkommen im Tagesreiseverkehr, der mit den neuerstellten Autobahnen von der nördlichen Tokio-Region hereinfließt. Ansonsten locken zwei Luxushotelketten die wenigen wohlhabenden Touristen, die mehr als zwei Tage in der Region verbringen, mit Rabatten in ihre neu erstellten Prachtbauten.

Naganos Bürger trugen bis Anfang Februar die neue Ruhe in ihrer Stadt mit Fassung. Zu groß war der Stolz, als japanische Kleinstadt für zwei Wochen im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit gestanden zu haben. Als aber der Olympia-Skandal ans Licht brachte, daß die Spiele mittels Bestechung gewonnen wurden, wich der Stolz einer deprimierten Niedergeschlagenheit. „Die Provinz- und Stadtbehörden müssen mit einem Revitalisierungsplan aufwarten, wenn sie die Region nicht in eine Depression abgleiten lassen wollen“, sagt Sato vom Wirtschaftsinstitut. Längerfristig muß Nagano Investoren in Zukunftsindustrien anziehen, um aus der Krise zu finden. Der durch den Skandal verursachte Vertrauensverlust zu den Behörden hat diese Aussichten aber entscheidend getrübt.

„Olympia war wie ein Taifun – es kam schnell und war genauso schnell wieder vorbei“, sagt der frustrierte Hotelmanager