: Normalzeit
Zen und die Kunst der Deterritorialisierung ■ Von Helmut Höge
In den Berliner Bezirken Marzahn und Hellersdorf leben bereits über 18.000 Rußlanddeutsche. Und es gibt ein eigenes Theater sowie zwei Zeitungen – aus Ahlen und München – von und für Rußlanddeutsche. Obwohl meine Stiefmutter schon als Sprachlehrerin von ihnen lebt und mein Vater einige als Holzhacker beschäftigte, war mir bisher noch kein einziger Rußlanddeutscher begegnet.
Jetzt erfuhr ich auch noch von einem Soziologen, Andreas Masurkow, der in Ostberlin die rußlanddeutsche Zeitschrift Nowaja Studija herausgibt (Auflage 350), die interessante These: „Die Rußlanddeutschen werden sich wieder der russischen Kultur zuwenden; Rußland war ihre Mutter, vielleicht auch nur die böse Stiefmutter.“ Die meinige (gute) hat übrigens den Lehrauftrag, ihnen alles Russische auszutreiben. Dies ist nicht nur für Masurkows These niederschmetternd, sondern auch für die vielleicht einzige ökonomische Chance der „Zuspätheimkehrer“: nämlich mit den Dagebliebenen Handel und Wandel zu betreiben. Etwas klüger haben es die „Memeldeutschen“ angefangen, die bereits 1950 als „Displaced Persons“ in Südhessen ein zweisprachiges „Litauisches Gymnasium gründeten“, mit (amerikanischem) Geld von Exil-Litauern. Aber je kleiner und feiner ein Land, desto mehr Raum läßt es wohl für Patriotismus.
Dem rußlanddeutschen Architekt Wladimir Prib beispielsweise ist derlei eher wesensfremd. Er hat inzwischen sogar einige Gegengifte – gegen alle schweren (runterziehenden) Identitätswünsche, Ideologien, Politiken usw. – parat: „Nietzsche“ (“Werdet oberflächlich, denn dorthin kommen die Wesen der Tiefe, um zu atmen!“) und „Zen-Philosophie“ (um über die Oberfläche hinauszugelangen). Jetzt wurde dazu eine Ausstellung mit seinen Ölbildern in der kommunalen Galerie von Hohenschönhausen (Zingster Str. 25) eröffnet: „Schachspiele für Könige“ betitelt. Und das kam so:
Er wurde 1965 in der kasachischen Bergbaustadt Karaganda geboren. Dorthin hatte man seit der Kollektivierung und dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion besonders viele Wolga- und Krimdeutsche verbannt. Wladimir Prib studierte ab 1973 Architektur in Ust-Kamenogorsk und arbeitete dann am Projektierungsinstitut „Karagandagorselprojekt“, wo er u. a. einen Pionierpalast mit Kindersportschule entwarf. Ab 1981 war er auch noch nebenberuflich als Zeichenlehrer in Kasachstan tätig. 1987 arbeitete er zunächst am Ostberliner Institut für Gesundheitsbau, mit der Wende machte er sich als Architekt – ganz „blauäugig“ – selbständig. Als die Auftragslage schlechter wurde, widmete er sich mehr und mehr der Malerei – und nahm an internationalen Zen-Treffen teil. „Es gab in der Wende eine öffentliche allgemeine Euphorie, die dann langsam Angst und Beklommenheit wich. Alles war damals am Ausprobieren, ich auch.“
In einem französischen Buddhistencamp lernte er die Berliner Tänzerin Conny Hege kennen, mit der er 1997 in Prenzlauer Berg (Göhrener Str. 14) ein „Studio“ eröffnete, in dem sie nun – zusammen mit einigen weiteren Dozenten – Kinder und Jugendliche in Kunst und Tanz unterrichten. Auch beim Tanz kommt es darauf an, die Erdanziehung zu liquidieren, und sei es für Momente nur. Und bei seiner Malerei spielen „Energiezentren“ eine wichtige Rolle, die bekanntlich so feinstofflich wie Lichtwellen sind, wobei viele Bilder von Prib auch noch die „Wandlung“ – von Farben etwa – thematisieren und auch den „Zufall“ nicht verschmähen. Ich sehe in dieser Daseinsbewältigung durchaus noch etwas Rußlanddeutsches aufscheinen. Doch welchen Sinn macht eine solche Beobachtung (noch)? Prib besteht auf den Eigenwert der „Differenz“, 1996 nannte er jedoch eine Ausstellung „Gärten und Türme oder die Liebe zur Schwerkraft“ – zuvor hatte er sich an einer Bonner „Begegnungs“-Ausstellung „Rußlanddeutscher Künstler“ beteiligt.
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