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Westliche kontra östliche Werte –betr.: „Friedlicher, sozialer, deutscher“, taz vom 25. 5. 99

[...] In seinem Kommentar gelingt Christoph Seils zwar eine zutreffende Analyse realsozialistischer SED-Schizophrenien bestehend aus Friedenspropaganda auf der einen Seite und Aufrüstung bzw. Militäreinsätzen (Prag, Afghanistan) auf der anderen, doch in der üblichen (westdeutsch geprägten) Manier gelingt es ihm nicht, auf den Kern ostdeutscher Meinungsbildung vorzustoßen.

Das beginnt bereits damit, daß er an die Stelle einer differenzierten Gesellschaft die einer homogenen, von SED-Propaganda, Stechschritt und kollektiven Wende-Erfahrungen allein geprägten (DDR-) Volksgemeinschaft setzt, etwa wenn er davon spricht, die Ostdeutschen seien über Nacht zu Pazifisten geworden und zeigten sich gleichgültig gegenüber rassistischer Gewalt. Doch wesentlich deutlicher werden Seils Erkenntnisdefizite, wenn er zu ost-westdeutschen Vergleichen ansetzt. Dann ist davon die Rede, daß Westdeutsche sich „bereits“ stärker mit Europa identifizieren und Völkerrecht und Menschenrecht als gleichberechtigt konkurrierende Werte betrachten. Über dieser Art der Argumentation liegt die inzwischen unerträgliche Arroganz des ewig rechthabenden Westens und des lernunwilligen Ostens, denn hätte der Osten doch nur endlich die Wertmaßstäbe des Westens vollständig und restlos übernommen, am besten auch seine Erlebnisse und Erfahrungen, dann endlich wäre er ein ernstzunehmendes Mitglied der Gesellschaft. [...] Die Möglichkeit, daß auch die westdeutsche Denkwelt Lücken und Widersprüche aufweist, klingt bei Seils nur am Rande im Bezug auf die Scharping-Auftritte an. [...] So schreibt Seils über individuelle westliche Werte wie Demokratie und Leistung, Gerechtigkeit und Arbeit dagegen sind nach seiner Definition kollektive, also Ost-, also weniger wichtige Werte. Wie es aber sein kann, daß Demokratie ein individueller und Arbeit ein kollektiver Wert sein soll, bleibt völlig unklar. [...] Wenn schon universelle Menschenrechte, dann aber auch die ganze Charta, also inklusive der sozialen Rechte, die der Westen nämlich noch immer verneint.

[...] Wie wäre es damit, das tiefe Mißtrauen der Ostdeutschen gegenüber der westdeutschen veröffentlichten Meinung als erlernte Kritik gegenüber allen allzu einfachen Erklärungen zu deuten? Dort mußte man lernen, Propaganda zu erkennen, und daß es niemals nur eine Wahrheit gibt. Ostdeutsche Werte sind möglicherweise gar nicht unbedingt „falsch“, sondern einfach nur andere, die es auch zu respektieren gilt. [...] Christian Müller, Eisenach

Die Redaktion behält sich den Abdruck sowie das Kürzen von Briefen vor. Die auf dieser Seite erscheinenden LeserInnenbriefe geben nicht notwendigerweise die Meinung der taz wieder.

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