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Landebahn Jerusalem

Droht der Grand Prix Eurovision immer konventioneller zu werden? Die Beats werden immer schneller, der Rhythmus moderner, selbst die Balladen klingen dieses Jahr angloamerikanisch. Der traditionelle und beliebte Charme der europäischen Provinzen scheint hinter der Marktgängigkeit immer öfter zu verschwinden. Ein Überblick mit Vorurteilen über die 23 Wettbewerbssongs aus Jerusalem  ■ von Jan Feddersen

1. Litauen: Aisté mit Strazdas (“Drossel“). Kreuzzüglerisches Lied mit grellem Saxophon über einen widerspenstigen Vogel. Die Sängerin hat Mühe, die hohen Töne zu treffen. Sehr baltisch.

2. Belgien: Vanessa Chinitor mit Like The Wind (“Wie der Wind“).Die studierte Ökonomin bestach bei der Vorentscheidung durch ein schönes rotes Kleid und ein kamerazugewandtes Lächeln. Der Song selbst wie ein Sommerlüftchen: lau. Mit ihm wird nichts verkehrt gemacht.

3. Spanien: Lydia mit No quiero escuchar (“Ich will nichts hören“). Sie ist in ihrer Heimat eine Art Blümchen – frisch, anregend. Das lasziv wirken wollende Lied erschließt sich erst bei der 23. Hörprobe in allen Nuancen: Das ist für eilige Telefonanrufer wohl zuviel.

4. Kroatien: Doris Dragovic mit Marija Magdalena (“Maria Magdalena“). 1986 schon einmal dabei, damals noch für Jugoslawien. Sie wird bei den Eurovisionsfanklubs ganz vorne erhofft. Beachtlich: ihre dramatischen, freischärlerischen Armbewegungen.

5. Großbritannien: Precious mit Say It Again ( „Sag's noch mal“). Die sechs Girls singen wie eine Lightversion von Motown. Typisch britisch: belanglos, aber schön. Thema: Freud und Leid an der Liebe in jungen Jahren.

6. Slowenien: Darja Svajger mit Se tisoc let (“Weitere tausend Jahre“). 1995 war die schöne Frau mit glühender Körperhaltung schon mal beim Contest dabei; jetzt kommt sie mit barbrastreisandeskem Sehnsuchtsschmus.

7. Türkei: Tuba Önal mit Dön Artik (“Komm wieder“). Vielleicht zu überheizt: sehr flott, sehr türkisch. Ehrenwert.

8. Norwegen: Stig van Eijk mit Living My Life Without You (“Ohne dich leben“). Rapartiges, typisch unnorwegisch. Nichts von Grieg, von Ibsen, von gar nichts. Dafür gefallsüchtig.

9. Dänemark: Trine Jepsen & Michael Teschl mit Denne Gang (“Diesmal“). Sie singt schön, er nicht. Dänisch, also nichts Extremes. Er wurde bei TV 3 Skandinaviens „Mann-o-Mann“.

10. Frankreich: Nayah mit Je Veux Donner Ma Voix ( „Ich will euch meine Stimme geben“). Extrem grandprixesk: Singen, das ins Kreischen übergeht. Die Sängerin, Mitglied der Sekte Rael, forderte Israel jüngst auf, für die Ufos des Jüngsten Gerichts zum Millenium eine Landebahn zu bauen. Kraß zudem: ihr Lacroix-Fummel – ein Küchenkittel auf Pumps.

11. Niederlande: Marlayne mit One Good Reason ( „Ein guter Grund“). Blaue Augen, blonde Haare, die sie mit Stoffetzen bündelt, natürlich-countrymäßig wirkender Song, mitreißend womöglich auch – eine Favoritin. Zur Sicherheit singt sie nicht Niederländisch.

12. Polen: Mieszyslaw Szczesniak mit Przytul Mnie Mocno (“Halt mich fest“). Freundlicher junger Mann besingt das Glück, Vater zu sein. Keine Spur mehr von polnischen Exaltiertheiten. Kein Englisch. Letzter Rang?

13.Island: Selma mit All Out Of Luck (“Vom Glück verlassen“). Die Sängerin, eine Mischung aus Sandie Shaw und Tracey Ullman mit dem Charisma einer Björk, könnte den ersten Grandprixsieg für ihr Land ersingen. Ansteckend gute Laune einer kleinen Diva. Eine würdige Nachfolgerin von Dana International?

14. Zypern: Marlain mit Tha'Ne Erotas (“Es muß Liebe sein“). Popkonfektion aus dem östlichen Mittelmeer: langsamer Auftakt, enervierend-eiliges Ende. Spontan karaokereif. Von den meisten Mitgliedern des deutschen Grandprixklubs auf Platz 1 gehievt.

15.Schweden: Charlotte Nilsson mit Take Me To The Heaven (“Heb mich in den Himmel“). Ein übler Abbaverschnitt, der sich in unsere Ohren fressen will und vermutlich wird. Die Interpretin weiß, wie man Augen aufschlägt.

16.Portugal: Rui Bandeira mit Como Tudo Comecou (“Wie alles begann“). Ein tapferer Versuch, diesmal keine Alentejofolklore darzubieten. Respektabel, wenn auch chancenlos – es klingt nicht einmal in Spurenelementen wie Vinho verde und Stockfisch.

17.Irland: The Mullans mit When You Need Me (“Wenn du mich brauchst“). Okay, man merkt dieser Ballade an: Dieses Duo soll um Gottes Willen nicht wieder gewinnen. Bloß nicht wieder Dublin!

18.Österreich: Bobbie Singer mit Reflections (“Reflexionen“). Englisch gesungen, soll jeder Verdacht auf Hinterwäldlerei zerstreut werden. Die Chanteuse erinnert in jeder Hinsicht an Vanessa Paradis' „Joe le Taxi“.

19.Israel: Eden mit Yom Huledeth (“Herzlichen Glückwunsch“). Eine Boygroup gewinnt nur ausnahmsweise (wie 1984 das schwedische Sakrodiscotrio „Herreys“)- dieses wenngleich nicht unhübsche Quartett wird nicht dazugehören. Im Heimatland umstritten, weil die beiden schwarzen Sänger Mitglieder der Urhebräer sind. Tanzbar, sehr tanzbar.

20.Malta: Times 3 mit Believe 'n Peace (“Glaub an den Frieden“). Das Land, seit 1991 wieder dabei, will endlich den Sieg davontragen. Voriges Jahr hätte es fast gereicht: Nur Dana International und Imaani konnten Chiaras Engtanzlied stoppen. Es reicht eben nicht zu kalkulieren, was den Europäern so gefällt, wenn es ohne Herz daherkommt – so wie dieses Lied der drei Frauen. Blaß bis ärgerlich.

21.Deutschland: Sürpriz mit Kudüs'e seyahat (“Reise nach Jerusalem“). Ein Lied im Namen des Doppelpasses, sechs Deutsche mit muslimischem Hintergrund in Israel – da gebietet die politische Korrektheit alles Daumendrücken, obwohl Ralph Siegel (ja, richtig: der ewige Ralph Siegel) der Vater dieses objektiv politischen Acts ist. In Israel wird der Beitrag mitfavorisiert.

22. Bosnien-Herzegowina: Dino & Beatrice mit Putnici (“Reisende“). Ein Bosnier (mit intellektueller Aura) und eine Französin (mit französischer Aura) singen einen abendländisch-orientalischen Mix: das experimentellste Lied des Abends, rhythmisch, etwas sperrig, ohrenöffnend, ohne sich anzubiedern.

23.Estland: Evelin Samuel & Camille mit Diamond Of Night (“Diamant der Nacht“). Elegisch: Eine Frau singt schön, eine andere Frau geigt schön. Das ist also das Baltikum? Rätselhaft, das.

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