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Trauerarbeit am Rande des Irrsinns

■ Neu im Kino: „Under the Skin“ der Regisseurin Carine Adler

Unter die Haut geht der jungen, hochsensiblen Iris der Tod ihrer Mutter. Diese war das ruhende Zentrum der kleinen Familie, die nur aus Frauen bestand. Iris Schwester Rose ist schwanger und hat so emotional einen Gegenpol zum plötzlichen Verlust der Mutter. Aber Iris wird völlig aus der Bahn geworfen.

Mit der alten Perücke und dem Pelzmantel ihrer Mutter irrt sie durch die Straßen von Liverpool, verliert durch ihr irrationales und selbstzerstörerisches Tun Freunde, Beruf, Geld und ihren Ruf. Bald gilt sie nur noch als das heruntergekommene Flittchen, das mit jedem ins Bett geht, denn Sex ist das einzige, das ihren seelischen Schmerz für kurze Zeit betäuben kann. Ihre Trauerarbeit führt Iris an die Abgründe des Irrsinns.

Der Debütfilm der jungen Engländerin Carine Adler ist keine leichte Kost. Aber „Under the Skin“ ist auch längst nicht so deprimierend, wie es nach einer kurzen Nacherzählung scheinen mag. Der Film erzählt in atemlos scheinenden Bildsequenzen, mit schnellen Schnitten, Reißschwenks mit der Handkamera, surreal wirkenden Einstellungen. Und so gelingt es Carine Adler, den Seelenzustand von Iris sehr internsiv spürbar zu machen. Die Kamera scheint die gleiche hochnervöse Energie zu treiben wie die Protagonistin, aus deren Perspektive der Film auch konsequent erzählt ist.

Nur in zwei kurzen Sequenzen verläßt die Kamera Iris und zeigt uns, was ihre Schwester und ihre Freundinnen bei der Arbeit über sie reden. Diese beiden Szenen wirken wie Fremdkörper im Film – man erkennt zwar, warum es der Regisseurin wichtig war, hier kurz auch einen Blick von außen auf Iris zu werfen. Dennoch stört der Stilbruch, gerade weil die Regisseurin im Rest des Films so virtuos die Innenwelt dieser jungen Engländerin beschreibt.

All die cinematographischen Tricks könnten leicht maniriert und artifiziell wirken. Aber die extrem naturalistische und authentisch wirkende schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerinnen bildet einen genau ausbalancierten Gegenpol zu Adlers Bilderfluten. Samantha Morton spielt die Iris mit einer erschreckenden Verletzlichkeit. Mal stößt sie einen ab in ihrer völlig ichbezogenen Manie und Rücksichtslosigkeit, dann rührt einen wieder ihre Unschuld auch noch in den schlimmsten Exzessen, meist hat man einfach nur Angst um sie. Denn in ihrem Zustand kann ihr buchstäblich alles zustoßen.

Man hat nie das Gefühl, daß Samantha Morton hier großes Theater spielt, und gerade dadurch beweist sie natürlich ihr immenses schauspielerisches Talent. Im britischen „Free Cinema“ der 60er Jahre wurden ähnliche Geschichten mit der gleichen Radikalität erzählt, und damals hätte Rita Tushingham (“Bitterer Honig“, „Der gewisse Kniff“) die Iris gespielt. Wenn sie jetzt in einer kleinen, aber zentralen Nebenrolle sehr glaubwürdig deren Mutter spielt, ist dies auch eine Hommage des jungen britischen Kinos an ihre Vorbilder wie Tony Richardson und Richard Lester.

Carine Adler erzählt so souverän mit der Kamera, daß sie selbst eines der kitschigsten Klischees so einsetzen kann, daß man es kaum bemerkt, so gut wirkt es: Nachdem Iris in einer letzten, verzweifelten Nacht ganz tief gesunken ist, beginnt der Heilungsprozeß mit einem Sonnenaufgang. Man muß schon ein sehr guter Filmemacher sein, um damit durchzukommen.

Wilfried Hippen

„Under the Skin“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln im Kino 46 von heute bis Samstag, um 20.30 Uhr, und von Sonntag bis Dienstag ,um 18.30 Uhr

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