: München liegt auf dem Balkan
Tangenten, Querverbindungen, Übergangslinien und Schnitte zwischen Europa und dem „anderen Europa“: Die Region im Südosten hat stets mehr Geschichte produziert, als sie verbrauchen kann. Anmerkungen zum Balkan und zur „Balkanisierung“ ■ Von Pedrag Matwejewic
Wer sich mit dem Balkan beschäftigt, stößt sehr bald auf dessen Widersprüche. Handelt es sich dabei um eine Halbinsel oder um einen massiven Kontinentalblock, der aus dem Mittelmeerbecken ragt? Er ist beides gleichzeitig, aber auch, abhängig vom Ort, entweder das eine oder das andere. Zahlreiche Meere umspülen seine Ufer: die Adria, das Ionische Meer, die Ägäis und, nicht zu vergessen, am Rand des Balkans, das Schwarze und das Marmarameer. Jedoch grenzen nicht alle seine Ufer ans Meer, und das Hinterland besteht zum größten Teil aus Bergen. Ihren Namen bezieht die Region nicht von einem der fünf Meere, die sie begrenzen, sondern von dem Relief in ihrem Binnenland, von den Höhen, die die alten Geographen Haemus und catena mundi nannten, denen die Slawen den Namen „Alter Berg“ (Stara planina) gaben und die auf türkisch Balkan heißen.
Dieses Gebiet unterliegt starken Erdbewegungen. Erdbeben richten Zerstörungen an. Zahlreiche Küstenstädte sind den Wellen zum Opfer gefallen. Seit jeher sind hier immer wieder Inseln untergegangen oder an einen anderen Ort gerückt worden. An vielen Stellen vermeint man, am Meeresgrund in Ufernähe die Ruinen alter Paläste auszumachen, Häfen und Molen, an denen Wracks voller sagenhafter Schätze liegen. Die seismischen Stöße und die tektonischen Veränderungen, die sie hervorrufen, sind in diesem Fall nicht einfach Metaphern. Nicht wenige sehen einen Zusammenhang zwischen diesen Phänomenen und der Mentalität und den Launen der dortigen Bewohner.
In der Vergangenheit nannte sich der Balkan auch illyrische, griechische oder byzantinische Halbinsel (und in neuerer Zeit „europäische Türkei“). Im Unterschied zum Appenin oder zur Iberischen Halbinsel, die durch Bergketten (die Alpen und die Pyrenäen) vom Kontinent getrennt sind, hat die Balkanhalbinsel keine eindeutige und sichtbare Grenze zu Westeuropa. Manche Geographen und Historiker betrachten die Flußläufe der Donau, der Save und der Kupa als die Grenzlinien des Gebiets; in der Küstenregion wären das der Quarnero, der Golf von Rieka oder der von Triest, doch diese Einschätzungen sind nicht immer nachzuvollziehen.
Die Frage, wo der Balkan beginnt, hängt häufig vom Beobachtungsstandpunkt ab. So wird gern behauptet, für Mitteleuropäer beginne die Unruhezone bereits in München oder in Wien. Die Einwohner dieser beiden Städte verlagern diese Grenzlinie jedoch nach Ljubljana oder Zagreb, und die Slowenen und die Kroaten ihrerseits ziehen sie nicht ohne Hintergedanken noch weiter im Osten, in Belgrad oder Sarajevo. Als ein französischer Schriftsteller und Kenner der griechischen Literatur vor einiger Zeit behauptete, Griechenland und die griechische Politik seien viel stärker balkanisch geprägt als mediterran, entstand eine in dieser Hinsicht erhellende Polemik. Die verleumderischen Behauptungen dieses ehemaligen Freundes lösten eine Salve von gekränkten Repliken aus.
Die Frage nach der Vielfalt und der demographischen Unterschiedlichkeit ist so alt wie der Balkan selbst. Die bedeutendsten Gelehrten und die einfachsten Scharlatane haben sich für dieses Thema leidenschaftlich interessiert. Bei einem alten Mönch von Sibenik, der den lateinischen Namen Georgius Sisgoreus trug, sowie bei einem anderen, dem Kroaten Juraj Sisgoritch, der zur Zeit der Renaissance lebte, Venedig rühmte und die slawischen Märchen niederschrieb, bin ich auf einen sehr kuriosen Versuch gestoßen: Mit großer Akribie versuchten sie, die Völker und Stämme des Balkans zu zählen, wobei sie sich auf Überlieferungen aus der Antike stützten. Sie fanden eine ganze Reihe fremder und exotischer Namen für unsere Vorfahren: Nach Kalimachus gab es die Encheleer (Encheleae), die Himanier, die Peuketier (Peuciai); nach Plinius die Serreter, die Serapiller (Serapilli), die Iasier (Iasi), die Andizeten, die Calophier (Calophani) und die Breucier (Breuci); die Noriker (Norici), die Antintanen, die Ardiäer (Ardiaei), die Pallarier und Japoden, die Tribalen (Tribali), Daysier (Daysii), die Istrier (Histri), die Liburner (Liburni), die Delmaten (Dalmatae), die Kureten (Kroaten) etc. Hinzu kommen natürlich weitere Slawen sowie die alten römischen Bevölkerungen, die sie vertrieben hatten, die Illyrer und die Thraker – die Vorfahren der Albaner, die jetzt so schwer leiden –, die Goten und die Kelten, die ebenfalls einige schlecht verheilte Wunden im kollektiven Gedächtnis hinterließen, sowie die Griechen und die Pelasger, ihre Vorläufer auf der Balkanhalbinsel, die Pezenegen (Pechenegi), die Ghegen, die Manier, die Morlachen oder Schwarzen Walachen (Mauri Volcae) sowie viele andere mehr, die aufgeführt werden müßten, aus Platzmangel in diesem Artikel und im Balkan selbst aber übergangen werden. Zu diesen ethnischen und linguistischen Unterschieden kommen noch die mythologischen und imaginären hinzu. Ein jeder hier hat uralte und tiefe Wurzeln und ein gewisses Recht auf Vorrang. Das historische Recht, das sich gegenüber dem Naturrecht behauptet, sieht sich häufig mit einem „prähistorischen“ Recht konfrontiert, das seinerseits auf Vorrang pocht. Die Geschichtsschreibung neigt seit jeher dazu, eher die Nationen wahrzunehmen, die „vordringen“ und „sich niederlassen“, als diejenigen, die sich vermischen. Es ist durchaus nicht einfach festzustellen, was genau sie eint und was sie tatsächlich trennt, besonders zu einem Zeitpunkt, da diese Nationen versuchen, Staaten zu bilden und im Amphitheater der Modernität auftreten.
In dieser langen Geschichte gibt es zahlreiche Risse. Der tiefste ist wahrscheinlich der, der durch das christliche Schisma entstanden ist und die Kirchen und den Glauben, die Reiche und die Herrschaftsbereiche, die Stile und die Schrift getrennt hat. Die Trennungslinie zwischen Europa und dem Mittelmeerraum verläuft genau durch den Balkan. In die Kluft, die sich zwischen dem Katholizismus und der Orthodoxie aufgetan hat, ist der Islam eingedrungen. Daß sich die Literatur viel stärker entwickelt hat als der soziale oder wirtschaftliche Fortschritt, ist vielleicht kein Zufall.
Es wäre verfehlt, in diesem neuen Balkankrieg einen Religionskrieg zu sehen. Dieser Konflikt hat mit Glaubensfragen nichts zu tun. Freilich brachten religiöse Unterschiede fast ein Jahrtausend lang die Völker gegeneinander auf. Aus dieser Konfrontation wurde schnell Intoleranz, und die Intoleranz brachte ihrerseits gewisse Formen des Hasses oder der Konflikte hervor. Die Streitpunkte, die schwer auszuräumen waren, kamen bei jeder sich bietenden Gelegenheit erneut zum Vorschein und entwickelten sich zu Instrumenten der Manipulation. Die Herren des letzten Krieges haben davon großzügig Gebrauch gemacht. Auf diese Weise konnten Widersprüche, die nur einen sehr entfernten religiösen Ursprung haben, einen Krieg anfachen, der nichts mit Religion zu tun hat. Diese Art Paradoxon ist nicht selten in einer Region, die, wie es häufig heißt, „mehr Geschichte produziert, als sie verbrauchen kann“.
Ein wahrhaft säkulares Denken ist der Mehrheit der Balkanvölker zwangsläufig fremd geblieben. Wobei säkulares Denken nicht nur die Religion betrifft. Ein analoger Mangel an säkularem Geist ist auch gegenüber dem religiös besetzten Begriff von der Nation sowie gegenüber der zur Religion erhobenen Ideologie zu beobachten. Wobei diese Phänomene nicht auf den Balkan beschränkt sind – fast im ganzen Mittelmeerraum und auch außerhalb sind sie anzutreffen. In diesem Kontext wird aus einer „nationalen Kultur“ schnell eine nationale Ideologie. Die Literatur wird zu einer „Nationalliteratur“ im engen Begriffssinn. Und die Energie der Einzelpersonen und der Gemeinschaft wird völlig durch den Nationalismus absorbiert. Mit den bekannten Folgen.
Es wird oft über die Brüche gesprochen, die diesen Teil unseres Kontinents durchziehen und auf unterschiedliche Weise die berühmte „Balkanisierung“ verstärken. (Einer unserer Lehrmeister riet uns: Zögern Sie nicht, wichtige Dinge zu wiederholen, wenn Ihnen niemand zuhört.) Im Bereich des Balkans befinden sich die Überreste übernationaler Reiche und die der neuen Staaten, die im Rahmen internationaler Abkommen und nationaler Programme zerstückelt wurden; man stößt auf Nationalstaatsbegriffe aus dem 19. Jahrhundert und auf Ideologien aus dem „Realsozialismus“ des 20. Jahrhunderts; hier wirken die Ereignisse aus zwei Weltkriegen und einem Kalten Krieg fort sowie die Veränderungen sowohl in Ost- wie in Westeuropa; es bestehen zwiespältige Beziehungen zwischen den entwickelten und den unterentwickelten Ländern, Ost-West- und Nord-Süd-Tangenten und Querverbindungen, Übergangslinien und Schnitte zwischen dem Mittelmeerraum und Europa, zwischen Europa und dem „anderen Europa“. Alles Teilungen, Risse und Grenzen materieller und geistiger, sozialer und kultureller Art.
Dieses Gebiet trägt so viele Narben und Verletzungen, die ihm die Geschichte beigebracht hat, oder auch nur eine Vergangenheit, der es nicht einmal vergönnt war, wirklich zu Geschichte zu werden. Jeglicher Versuch, den eigenen Einflußbereich auf Kosten eines anderen auszuweiten, ist hier zum Scheitern verurteilt oder endet im nationalistischen Wahn. Es ist nicht genug Platz da für ein „Großserbien“, ein „Großalbanien“, für ein „Großkroatien“ wie gestern oder ein „Großbulgarien“ wie vorgestern. Der balkanische Raum ist zu begrenzt für solcherart Ansprüche, seine Grenzen sind bereits festgelegt, die Aufteilung hat stattgefunden.
In einer Zeit, in der die albanische Bevölkerung dieser Region auf grausame Weise aus ihren Häusern vertrieben wird und die Flugzeuge der Nato nicht nur die Umgebung eines auf immer schuldigen Despoten bombardieren, sondern auch das Volk, das letztendlich Opfer seiner Tyrannei ist, nimmt die Frage nach Rußlands Beziehung zum Balkan eine besondere Bedeutung ein. Die Rolle dieser ehemaligen Supermacht hängt in erster Linie von ihr selbst und ihrer Fähigkeit zur Veränderung ab: Davon, ob sie in ihren Traditionen verankert und konservativ bleibt wie früher oder ob sie endlich fortschrittlicher und moderner wird, als sie es in der Vergangenheit war. Ob sie „heilig“ oder profan, orthodox oder schismatisch, mehr „weiß“ als „rot“ oder umgekehrt sein wird, ob sie sich weniger „slawophil“ geben und vielmehr am Westen ausrichten und gleichermaßen europäisch wie asiatisch sein will. Ob es mehr ein Rußland sein wird, das „man mit dem Verstand nicht erfassen, an das man nur glauben kann“, wie der Dichter Tjutschew im 19. Jahrhundert sagte, oder wieder einmal das Rußland, „robust und mit großem Arsch“, das Alexander Blok während der Revolution besang. „Mit Christus“ oder „ohne Kreuz“, auf seine Weise mystisch und messianisch oder „populistisch“ und säkular zugleich. Eine wahre Demokratie oder die simple „Demokratur“, zu der es sich zurückzuentwickeln droht. Nur „russisch“ oder „russländisch“.
Was auch immer aus Rußland werden mag, es muß alles miteinbeziehen, was ihm aus der ehemaligen Sowjetunion verblieben ist, sowie all das, was ihm versagt geblieben ist, vielleicht für immer. Rußland wird niemandem helfen können, insbesondere nicht dem Balkan, wenn es seine eigenen Widersprüche unterschätzt oder vernachlässigt.
Dieser Artikel erschien zuerst am 25. April 1999 in der italienischen Tageszeitung „24 Ore“. Aus dem Französischen von Antje Bauer.
Pedrag Matwejewic wurde 1932 in Bosnien-Herzegowina als Sohn einer kroatischen Mutter und eines russischen Vaters geboren.
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