piwik no script img

Der Berg fordert seine Opfer

Für Bergsteiger ist der höchste Gipfel der Welt, der Mount Everest, eine Herausforderung. Der Aufstieg ist nicht nur mühsam und teuer, auf dem Dach der Welt droht auch der Tod durch Sauerstoffmangel    ■ Von Alexandra Seitz

„Chomolungma“ heißt „Göttliche Mutter der Erde“ und ist der tibetische Name des mit 8.846 Metern höchsten Berges unseres Planeten, bekannt als „Mount Everest“. Er steht im Himalaya, dem mächtigsten Gebirge der Erde, dessen Entstehung vor 50 Millionen Jahren begann, als die indische mit der asiatischen Platte kollidierte. Der Gipfel des Everest, vor 325 Millionen Jahren noch urzeitlicher Meeresboden, reicht im obersten Bereich der Troposphäre in eine Höhe, in der Airbusse fliegen, Temperaturen von - 40 ° C und Windgeschwindigkeiten von 200 km pro Stunde gemessen werden. Jedes Jahr im Mai, wenn der nahende Monsun den hoch oben pfeifenden Jet-Stream nach Norden treibt und wenige Tage lang klares, ruhiges Wetter herrscht, ist auf dem Everest Saison.

Entdeckt wird die enorme Höhe der damals „Peak XV“ bezeichneten Erhebung 1849 während der Vermessung Indiens durch die Briten. Mit Hilfe riesiger Theodoliten gelingen James Nicolson aus Entfernungen von über 100 Meilen mehrere Beobachtungen des Gipfels, der auf der tibetisch-nepalesischen Grenze in einem für Ausländer verbotenen Gebiet liegt. Nicolson errechnet eine mutmaßliche Höhe von 30.200 Fuß. Einige Jahre später macht man sich an die genauere Auswertung seiner Daten. Hochkomplizierte Berechnungen, die Erdkrümmung und -anziehung, Magnetismus der Berge und Lichtbrechung berücksichtigen, ergeben nun 29.002 Fuß. Eine vermessungstechnische Meisterleistung, liegen die 150 Jahre alten Zahlen doch nur unwesentlich unter der etwa 1950 errechneten Höhe von 29.028 Fuß, an der sich bis heute, nach Einsatz von Satelliten und Lasern, nicht viel geändert hat. 1865, nach erneuter Prüfung der Daten, tauft Sir Andrew Waugh den Riesen „Mount Everest“, nach Sir George Everest, seinem Vorgänger im Amt des British Surveyor General of India. Ungeachtet der Tatsache, daß der Berg bereits einen einheimischen Namen hat und Sir Everest aus diesem Grund gegen die Ehrenbezeugung protestiert. Bald werden Stimmen laut, die die Eroberung des Berges anregen.

Ohne Akklimatisierung geht es nicht

Aber nicht nur Wind und Kälte erschweren das Wagnis, sondern auch die starke UV-Strahlung sowie die Tatsache, daß ab einer Höhe von 7.620 m nur ein Viertel des auf Seehöhe verfügbaren Sauerstoffs vorhanden ist. Würde man eine Person abrupt auf den Gipfel des Everest katapultieren, sie wäre in Minuten bewußtlos und nach kurzer Zeit tot. Zur Akklimatisierung empfehlen sich längere Aufenthalte in zunehmender Höhe, damit der Organismus die Zahl der Sauerstoff transportierenden roten Blutkörperchen erhöhen kann. Die einheimischen Sherpa dagegen, von vornherein mit einer erheblich größeren Menge Hämoglobin gesegnet, scheinen in den Augen der Bergsteiger prädestiniert zu sein, Lasten zu tragen, Lager einzurichten und Seile zu befestigen. Ohne Sherpa ginge gar nichts.

Es vergehen über 100 Jahre, in deren Verlauf zwei Dutzend Männer bei einem guten Dutzend Expeditionen ihr Leben lassen, bis Chomolungma erklommen wird. 1921, Tibet öffnet sich der Außenwelt, nähern sich die ersten Engländer von der Nordseite. Dabei ist auch George Mallory, der am 8. Juni 1924, bei seinem dritten Versuch, zusammen mit Andrew Irvine im Nebel verschwinden wird. Mallorys Leiche wurde Anfang Mai dieses Jahres von einer Expedition entdeckt, die das ewige Rätsel lösen wollten, ob die beiden vor ihrem Verschwinden den Gipfel erreicht haben.

1949/50 ändert sich die geopolitische Lage erneut, Tibet wird von den Chinesen abgeriegelt und Nepal „macht auf“. Bergsteiger konzentrieren sich nun auf Routen über den Südgipfel. Am 29. Mai 1953 betreten der bald darauf zum Sir geadelte neuseeländische Imker Edmund Hillary und Sherpa Tenzing Norgay erstmals den Gipfel von Chomolungma. 1975 steht mit der Japanerin Junko Tabei die erste Frau und, nach immerhin 22 Jahren, erst der 39. Mensch oben. Im August 1980 müht sich Reinhold Messner allein und ohne zusätzlichen Sauerstoff auf den Berg der Berge und beendet damit ein für allemal die Diskussion, ob eine Besteigung „mit fairen Mitteln“ (Messner) überhaupt möglich sei. Den Aufstieg ohne Zusatzsauerstoff schaffen bis 1996 etwa 60 Menschen. Den Rekord hält mit 10 Besteigungen Sherpa Ang Rita.

In den Achtzigern beginnt die zunehmende Kommerzialisierung des heiligen Berges. Das Basislager gleicht einer Müllhalde, auf dem Südsattel sammeln sich Tausende von Sauerstoffflaschen. 1990 werden bei einer ersten Aufräumaktion 5 Tonnen Müll vergraben oder verbrannt. 1994 holt eine Expedition weitere 2,5 Tonnen herunter. Seit 1996 muß jedes Team, zusätzlich zur Startgebühr, die das Fremdenverkehrsministerium Nepals in den Jahren 1991 bis 1996 von 2.300 auf 70.000 US-Dollar erhöhte, 4.000 Dollar hinterlegen, die nur erstattet werden, wenn eine bestimmte Menge Unrat wieder mitgebracht wird. Auch ein Pfandsystem ist eingeführt, und Sherpa, die Sauerstoffflaschen zurückbringen, erhalten Geld.

Mitunter ähnelt der Everest einem Zirkus. 1988 eilt einer ohne zusätzlichen Sauerstoff in 22,5 Stunden hinauf, ein anderer springt mit dem Gleitschirm hinunter. Allein am 12. Mai 1992 geben sich 32 Bergsteiger auf dem Dach der Welt sozusagen die Klinke in die Hand. 1996 kommt die Quittung, als der Berg an einem einzigen Tag acht Opfer fordert. Zwischen 1921 und jenem verhängnisvollen 10. Mai, den Jon Krakauer, einer der Überlebenden, in seinem umsichtigen Bericht „In eisige Höhen“ schildert, kommen 144 Menschen am Everest um, erreicht haben den Gipfel etwa 630.

Sherpa stellen zwar nur ein Viertel der Besteigenden, aber ein Drittel der Verunglückten. Während die einen abstürzen und in Gletscherspalten verschwinden, bleiben die anderen erschöpft sitzen und frieren einfach ein. Eine Bergung ist aufgrund der extremen Bedingungen selten möglich. Wer nicht mehr weiterkann, bleibt oftmals seinem Schicksal überlassen.

Die größte Gefahr ist der Sauerstoffmangel

„Über 8.000 Meter kann man sich keine Moral leisten“, zitiert Krakauer einen japanischen Bergsteiger. Die Höhe ist nicht nur für die Moral gefährlich. Atembeschwerden, Kehlkopfentzündungen, Schlaf- und Verdauungsstörungen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Erfrierungen, Austrocknung, Muskelschwund und temporäre Geistesschwäche können noch als vergleichsweise harmlose Symptome von Sauerstoffmangel gelten.

Gefährlicher sind zwei, Hape (High Altitude Pulmonary Edema) und Hace (High Altitude Cerebral Edema) genannte, höheninduzierte Krankheitsbilder, die, bringt man die betroffene Person nicht sofort auf eine niedrigere Höhe, zum sicheren Tod führen. Hape tritt bei zu schnellem Aufstieg ein, der Sauerstoffmangel führt in Verbindung mit erhöhtem Druck in den Pulmonar-Arterien zum Austritt von Gewebeflüssigkeit in die Lungen, Delirium ist die unerwünschte Folge. Bei Hace tritt die Flüssigkeit aus unterversorgten zerebralen Blutgefäßen aus und führt zu einer Schwellung des Gehirns, die den Verlust motorischer und mentaler Fähigkeiten und schließlich Koma zur Folge hat. Oft wird den Betroffenen zum Verhängnis, daß sie den Vorgang, der sich in Windeseile abspielen kann, nicht bemerken.

Wer auf Chomolungma ums Leben kommt, heißt es, dessen Geist irrt dort herum und gibt den Gipfelstürmern das Geleit. Eine poetische Erklärung für die von vielen Bergsteigern beschriebene, wohl höhenbedingte Illusion, jemand sei eine Weile mit ihnen gegangen.

Literatur: Jon Krakauer: „In eisige Höhen – Das Drama am Mount Everest“, München 1998

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen