: Die Einheit in der Verschiedenheit
Das Museum für Völkerkunde nutzt seine Archive für aktuelle Fragestellungen ■ Von Hajo Schiff
Nicht einmal klare Grenzen hat dieses Gebilde namens Europa, doch für seine kulturellen Setzungen hat der vielgestaltige und gewaltig zerstrittene Kontinent stets Geltung verlangt und mit bemerkenswertem Erfolg durchgesetzt. Doch europäische Neugier, die jahrhundertelang auf Eroberungszüge ausging, interessiert sich für die etwas weiteren Nachbarn im eigenen Haus nur wenig. Und so gibt es auch außerhalb Hamburgs nur wenige Völkerkundemuseen, die seit ihrer Gründung im vorigen Jahrhundert der Erforschung der Kolonien und der Heimat gleichen Wert beimaßen.
Die umfangreiche hiesige Europaabteilung wurde nach neun Jahren mit der Dauerausstellung Das gemeinsame Haus Europa wiedereröffnet. Mit einem Aufwand von 2,4 Millionen Mark, wovon über die Hälfte von der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius kamen, wurde sie sogar zum Pilotprojekt der grundlegenden Neugestaltung aller Schausammlungen des Museum für Völkerkunde.
Der zentrale Raum des Hauses dient nun als Einstieg in den europäischen Blick auf das Fremde, aber die beweglichen Ausstellungsinseln zeigen auch die Sicht von außen auf Europa. Und diese Einführung in die Relativität des Blickes ist zugleich eine Selbstreflexion des Museums. Im Hauptraum der Sammlung von samischer Wiege zu spanischer Totentafel wurden die Ausstellungsvitrinen von 1911 weitgehend erhalten. Doch nun begehbar gemacht, ergibt sich ein zentrales Glashaus, ein europäisches Haus für kleine Sonderausstellungen innerhalb der Dauerpräsentation. Und die ist so modern wie möglich: Ein zentrales Computerkonzept bietet Hintergrundinformationen in bis zu zweiundzwanzig Sprachen und kann über Internet aktualisiert werden. Nonnenpuppenstube und De-signerküche, Traumfänger, Teufelsmaske und DNS-Spirale, Rezeptautomat und Riechinstallation führen in exquisiten Stücken und Alltagsobjekten in bekannte und entlegene Ecken des europäischen Hauses, ohne daß beansprucht wird, das Wesen unserer Kultur erschöpfend darzustellen.
Europa wird dabei erheblich größer als die EU aufgefaßt: Die Zahl der politisch anerkannten Staaten liegt zur Zeit bei fünfundvierzig – plus die Türkei. Und dennoch sind in Literatur und Kunst, Philosophie und Staatsrecht, Religion und Wissenschaft Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten auszumachen. Die Architektur selbst wird in diesem Raum zur These: Ein Edelstahlgewölbe bildet über der Verschiedenheit der Objekte eine verbindende Brücke. Die Selbstdefinition der einzelnen Kulturen, früher scheinbar selbstverständlich in Form von Volkstrachten vermittelt, ist heute zersplittert, da hilft auch der Vereinsschal des Fußballfans nichts. Identitäten erscheinen nur noch als stets gebrochene Spiegelungen einer verlorenen Grundidee, die solange verwendet werden, bis sich jemand zu erkennen meint. Das Museum reagiert auf diese Realität in der Ausstellung mit wandelbarer und Veränderungen anregender Kombinationsgabe. Es verzichtet auf die angestammte Autorität der Institution und gibt keine vorbildhaften Definitionen mehr, sondern spielt, wie Direktor Wulf Köpke sagt, „über Bande“.
Dazu allerdings bietet der europäische Kontinent ein fast unerschöpfliches Reservoir an ungewohnten Aspekten. Soll beispielsweise die bürgerliche Welt des Biedermeier zitiert werden, taucht sie hier in wenig bekannten Objekten aus dem Baltikum auf. Schon mit solch kleinen Verschiebungen in der tradierten Sicht verändert sich der Blick auf das, was bisher als das Eigene reklamiert wurde. Ein Spinnroggen mag so fremd nicht scheinen, hier aber kommt er von den Wogulen, deren Bekanntheitsgrad ziemlich gering sein dürfte. Und doch ist dieses finnische Volk eines von einhundertfünfzig Völkern innerhalb des mit der Ural-Grenze gegen Asien weitgehend um 1730 endgültig definierten europäischen Raums.
Doch manche Entdeckungen liegen auch in einem Völkerkundemuseum ganz nahe an der Oberfläche: Bei der Renovierung kam unter einem Paneel eine Kreidezeichnung eines damals hochaktuellen Flugapparats von 1908 zum Vorschein. Sie wurde in die anregende Ausstellung einbezogen, deren Besuch gerade am Sonntag vor oder nach dem Gang zur Europa-Wahlurne lohnt.
Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee 64, tgl. außer Mo 10-18 Uhr, Do bis 21 Uhr. Katalog „Das gemeinsame Haus Europa“, dtv, 1248 Seiten, 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen