: Struktur und Intuition
■ Drei Konzerte mit indisch-westlichen Gesangssymbiosen in der Passionskirche
Die in Berlin lebende Italienerin Amelia Cuni ist 20jährig nach Indien gegangen, um den klassischen nordindischen Gesang „Dhrupad“ zu studieren. Mittlerweile zollt ihr die indische Presse für ihre Konzerte höchstes Lob. Bemerkenswert, denn der Dhrupad ist eine männliche Domäne. Eher zufällig ist Cuni damals – in den siebziger Jahren, als Jugendkult und Indien eine Symbiose eingingen – zu diesem Stil gekommen. Statt streng vom Blatt zu singen, wollte sie einen Gesang lernen, bei dem Struktur und Intuition gleich wichtig sind. So ist sie zu einer Reisenden zwischen den Kulturen geworden.
In ihrem derzeitigen Programm, „Danza D'Amore“, singt sie Verse von Franz von Assisi und anderen italienischen Mystikern im klassisch indischen Gesangsstil. Für Leute, denen die indische Musik vertraut ist, verfremdet sie die Texte; dem italienischen Gehör kommen die Melodien abwegig vor. Mal ist es ein schrill herausgeschrienes Wort, das an neapolitanische Musik erinnert, mal eine Raga-Schleife, die mit Barockgeige korrespondiert. Wie eine Autofokuskamera, die nicht scharfstellen kann, wenn sie auf ein bewegtes Objekt gehalten wird, hinkt das Wiedererkennen des Bekannten dem Gehörten hinterher. Verfechter des Standardzitats von Adorno, nach dem „Musik Freude am Wiedererkennen“ ist, müssen an der Musik verzweifeln.
Indien hat eine der ältesten Musiktraditionen der Welt. Zwei große Musiksysteme haben sich seit dem 6. Jahrtausend v. Chr. entwikkelt und sind bis heute relevant: die nordindische, klassische, religiös geprägte Musik und die südindische, eher volkstümlich orientierte. In der Passionskirche ist Amelia Cuni im Rahmen einer Konzertreihe „Aspekte Indischer Musik – Tradition und Innovation“ zu hören. Der Titel ist etwas hoch gegriffen, das drei Konzerte umfassende Programm jedoch spannend. Jazz und indische Musik bringt das „Rajesh Mehta Collective“ zusammen. Ähnlich wie bei Amelia Cuni werden auch hier keine Weltmusikklischees produziert, zu hören ist vielmehr, wie sich verschiedene Musikideen gegenseitig bereichern. Die gefühlvolle Interpretation erlaubende indische Musik findet vor allem im freien, aber auch im improvisierten Jazz eine Seelenverwandte.
Daß Ungehörtes nicht automatisch für Unhörbares steht, zeigt Premkumar Mallik, der Sänger klassischer nordindischer Musik und Sproß einer großen Dhrupad-Interpretenfamilie, im letzten Konzert der Reihe. Waltraud Schwab
Samstag, 12. Juni: Amelia Cuni und Ensemble; 3. Juli: Rajesh Mehta Collective; 3. u. 10. Juli: Premkumar Mallik; Passionskirche, 20 Uhr
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