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Genitale Zwangskorrekturen bei Kindern

Nicht immer lassen sich Neugeborene eindeutig einem Geschlecht zuordnen. Mit chirurgischen Eingriffen und Hormontabletten halten Ärzte dann die zweigeschlechtliche Ordnung aufrecht    ■ Von Wolfgang Löhr

Männlich oder weiblich? Spätestens wenige Tage nach der Geburt muß das Geschlecht des Neugeborenen festgelegt sein. So verlangt es der Gesetzgeber. In der Regel gibt es keinen Entscheidungsspielraum. Das Neugeborene wird aufgrund der äußeren Körpermerkmale einem Geschlecht zugeordnet werden. Doch nicht immer hält sich die Natur an die vom Menschen vorgegebene Ordnung. Zwar wird das genetische Geschlecht durch die Chromosomenpaare XX oder XY festgelegt. Doch wenn die Hormonsysteme in der Embryonalentwicklung außer Balance geraten, kann das in unserer Gesellschaft fast einmütig akzeptierte Ordnungssystem, hier männlich, dort weiblich, ins Wanken geraten. Die Grenzen lösen sich auf: Jungen sehen wie Mädchen und Mädchen wie Jungen aus. Beim biologischen Geschlecht sind fast alle Zwischenstufen möglich.

Hermaphroditen oder auch Intersexuelle werden die Zwischenwesen mit den zwei Geschlechtern genannt, die nicht in die gängige Norm passen. Mädchen, die eine zu große Klitoris oder am ganzen Körper starken Haarwuchs haben, Jungen, bei denen statt eines Hodensacks Schamlippen ausgebildet sind oder die einen zu kleinen Penis haben. Im Pschyrembel, dem medizinischen Standardlexikon, heißt es: Intersexualität ist eine „Störung der sexuellen Differenzierung, bei der sich die inneren und äußeren Geschlechtsorgane in unterschiedlicher Ausprägung entgegen dem chromosomalen Geschlecht entwickeln“. Mit 1:500 wird die Häufigkeit dieser „Störung“ angegeben. Genaue Statistiken sind nicht verfügbar. Andere Schätzungen gehen sogar davon aus, daß bis zu vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind.

Menschen mit einem intersexuellen Geschlecht dürfen nicht verwechselt werden mit Transsexuellen, die eindeutig einem biologischen Geschlecht zuordbar sind und bei denen auch keine Fehlbildungen der Genitalien vorhanden sind. Transsexuelle leiden darunter, daß ihr körperliches Geschlecht nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt, sie fühlen sich dem jeweils anderen Geschlecht zugehörig.

„Medizinisch entspricht ein Mensch der Norm, wenn er auf dem 23. Chromosomenpaar X und X oder X und Y trägt und bei der Geburt eine Klitoris kleiner als ein Zentimeter oder ein Penis über 2,5 Zentimeter hat“, beschreibt Michel Reiter, die sich selbst als Intersexuelle bezeichnet und Mitbegründerin der „Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Psychiatrie und Gynäkologie“ ist, die Vorstellungen der Mediziner. Für betroffene Kinder hat die Abweichung von der Norm weitreichende Konsequenzen. In der Regel wird das Geschlecht intersexueller Kinder schon wenige Monate nach der Geburt operativ korrigiert.

Dazu kommt, daß sie meistens lebenslang in medizinischer Behandlung bleiben und Hormontabletten zu sich nehmen müssen. Fällt ein Neugeborenes bereits bei der Geburt durch „Anomalien“ der Geschlechtsorgane auf, so orientieren sich die Ärzte nach dem Chromosomenbild. Bei XX werden die weiblichen Genitalien nachgebildet. Ist zum Beispiel keine Vagina vorhanden, wird sie von den Kinderchirurgen geschaffen. Die über der Norm liegende Klitoris wird auf ein akzeptables Maß reduziert. Schamlippen werden vergrößert oder verkleinert.

Befindet sich hingegen „ein Y im Chromosomensatz“, berichtet Reiter, „richtet sich eine Zuweisung nach der diagnoseabhängig zu erwartenden Penisgröße mit zufriedenstellender Penetrationsfähigkeit“. Diese habe ideellen Vorrang. Da die künstliche Nachbildung eines Penis jedoch schwieriger ist als die Ausformung der weiblichen Genitalien, wird in der Praxis häufig eine weibliche Einordnung vorgenommen. Es herrsche die Anschauung vor, „daß es für ein weibliches Individuum mit reduzierter Genitalfunktion leichter sei im Leben, ihren Mann zu stehen, als für ein männliches Wesen mit verminderter Geschlechtsfähigkeit“, kritisiert Reiter.

Die Ursachen für Intersexualität sind vielfältig. So können embryonale Entwicklungsstörungen zu Fehlbildungen der Genitalien führen, fehlende oder in der Funktion eingeschränkte Hoden oder Eierstöcke beispielsweise. Eine sehr häufige Form der Intersexualität, das sogenannte Adrenogenitale Syndrom (AGS), ist auf eine Störung der Nebennierenrindenfunktion zurückzuführen. Durch einen Enzymdefekt schüttet die Nebennierenrinde zu wenig oder kein Cortison aus. Die Folge ist eine Überproduktion von männlichen Sexualhormonen. Für Jungen bleibt der Enzymdefekt ohne Folgen. Bei genetisch weiblichen Feten entwickeln sich aber männliche Geschlechtsmerkmale, zum Beispiel eine vergrößerte Klitoris, die einem Penis ähnelt. AGS wird vererbt. Der Enzymdefekt wird aber nur wirksam, wenn der Fetus sowohl vom Vater als auch von der Mutter ein AGS-Gen erhalten hat.

Ein anderer Enzymdefekt, der 5-alpha-Reduktasemangel, wiederum führt dazu, daß Jungen als scheinbare Mädchen geboren werden, da das in der embryonalen Entwicklung für eine Vermännlichung nötige Hormon nicht synthetisiert wird. In der Pubertät setzt dann jedoch mit der Bildung des Testosterons eine Maskulinisierung ein. Sind sie als Mädchen aufgewachsen, behalten sie zumindest in den wohlhabenderen Ländern diese Identität. Allerdings sind endokrinologische Medikamente und chirurgische Eingriffe notwendig.

Bei AGS ergreifen die Ärzte heute schon während der Schwangerschaft therapeutische Maßnahmen. Bei Risikoschwangerschaften verabreichen sie der Schwangeren ab der 5. Woche ein Medikament mit dem Namen Dexamethason, ein Cortisonpräparat. Ergibt dann ein pränatale Genuntersuchung, daß der Fetus zwei defekte Gene besitzt und weiblich ist, wird die Therapie bis zur Geburt fortgeführt. „In 85 Prozent aller Fälle ist keine Operation mehr erforderlich“, berichtete Professor Helmuth-Günther Dörr, Leiter der Endokrinologie an der Universitätsklinik Erlangen, vergangenesJahr auf dem 3. Berliner Symposium für Kinder- und Jugendgynäkologie. In der in Erlangen eingerichteten zentralen Datenbank werden alle mit Dexamethason behandelten AGS-Risikoschwangerschaften erfaßt. Bis Anfang 1998 waren es 253 Fälle. Noch fehlen jedoch Langzeituntersuchungen, mit denen mögliche Nebenwirkungen bei den Kindern erfaßt werden können. „Wenn Sie die Therapie machen“, sagte Dörr in Berlin zu seinen Kollegen, „sind Sie verpflichtet, die Frauen darauf hinzuweisen, daß es eine experimentelle Therapie ist.“

„Genitalverstümmelung“ nennt Michel Reiter, die selbst mit vier Jahren zum erstenmal operiert wurde, die Selbstverständlichkeit, mit der Kinderchirurgen immer noch in das Leben der Kinder eingreifen. Zwar müssen die Eltern ihr Einverständnis für derartige Operationen geben. Doch häufig sind sie überfordert, wenn sie mit dem Thema konfrontiert werden. Sie können die Tragweite der medizinischen Maßnahmen kaum überschauen. Ein „normales“ und „gesundes“ Kind haben sie sich gewünscht. Und plötzlich werden ihnen von den Ärzten Krankheitssymptome genannt, von denen sie niemals zuvor gehört haben. „Für uns war es ein großer Schock, als wir von der Krankheit unseres Kindes hörten“, werden betroffene Eltern von einer Selbsthilfegruppe zitiert. Dazu kommt, daß sie mit kaum jemanden in ihrem familiären Umfeld darüber sprechen können. Intersexualität ist in unserer Gesellschaft mit einem strengen Tabu belegt. Die Zitate von Eltern zeigen deutlich das ganze Dilemma: „Die einzigen, die die Wahrheit erfahren durften, waren die Großeltern“ und „ich hatte panische Angst, meine Tochter im Beisein anderer zu wickeln; sie als Wickelkind in andere Hände zu geben, war sowieso undenkbar“.

Häufig erfahren selbst die Kinder nicht, was mit ihnen geschehen ist. Sie müssen nicht nur in einem Alter von ein, zwei Jahren die extrem psychisch und physisch belastende Tortur im Krankenhaus über sich ergehen lassen. Auch später, wenn sie anfangen zu begreifen, daß sie etwas anders sind als die anderen Kinder, erklären ihnen die Eltern selten etwas. Häufig ist ja auch die Behandlung nicht mit der Operation im frühen Kindesalter beendet. Neben dem täglichen Tablettenschlucken müssen Kinder, die eine künstliche Vagina bekommen haben, durch das regelmäßige Einführen eines „Phantoms“ die neu geschaffene Körperöffnung dehnen. „Mit drei Jahren beginnt ein Kind die Sexualität zu erkennen“, berichtete Professor Werner Grünberger von der Frauenklinik der Rudolfstiftung in Wien auf dem Berliner Symposium. „Wenn es dann mit einem Phantom schläft, wird es erst recht traumatisert.“ Die psychischen Folgen sind enorm. Ein großer Anteil der Intersexuellen soll bereits einen Suizidversuch unternommen haben. Immerhin noch 15 Prozent der Intersexuellen, die ein Geschlecht zugewiesen bekommen haben, wünschten sich eine Revision, berichtet Reiter mit Hinweis auf eigene Recherchen.

Von den Medizinern wird die Kritik zurückgewiesen. Sie verweisen darauf, daß in den letzten Jahrzehnten die Behandlung enorm verbessert werden konnte. So werde jetzt nicht mehr die Klitoris vollständig entfernt. Umfangreiche psychologische Studien, die der Frage nachgehen, ob die betroffenen Patienten mit den neuen Methoden zufrieden sind, fehlen jedoch weitgehend.

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