: Talken ums nackte Überleben
■ Klassische Theatervorlagen treffen auf die Nicht-Dialoge des Fernsehalltags: Im Kulturbahnhof Altona feierte die Tragikomödie „French Connection“ Premiere
Bei dieser Premiere war eine bittere Menge im Spiel: ein Raub, Molière, handwerkelnde Schauspieler, Paul Claudel, Talk-Junkies und ein ehemaliger Güterbahnhof. Bitter insofern, als daß es erklärtes Ziel der Theatermacher war, an einem Abend der Irritationen die Frage nach Tragik und Komik neu zu stellen. War man doch selbst zum Spielball zwischen tragischer Komödie und komischer Tragödie geworden... Einige Tage zuvor wurde nämlich die gesamte Technik aus der Halle des Kulturbahnhofs gestohlen. Was bedeutet da schon eine halbe Stunde Premierenverspätung, wenn die Vorstellung dank Improvisation sogar technisch reibungslos über die Bühne geht?
Dabei hatte sich das Theater ars Invert vorab schon auf Experimentalkurs begeben: Erstens gab es keine Bühne in den unendlichen Weiten des Kulturbahnhofs und zweitens sollten zwei Theatervorlagen und zeitgenössische Fernseh-„Undialoge“ vereint werden. Durch handwerklichen Einsatz der Theatergruppe ist eine Podestbühne in einer geräumigen Halle entstanden, umrahmt von Masken- und Garderobenecken, die transparent machen, was gewöhnlich hinter der Bühne passiert. Für sein Stück ließ Regisseur Thorsten Diel die tragische Mittagswende von Paul Claudel einfließen. Darin verlassen drei Männer und eine Frau Europa. In Asien verraten sie – von Begierden getrieben – alle Moral. Was zählt, ist nur noch das Gesetz des Stärkeren. Und da ist Diehl schon bei der Gegenwart, die für ihn durch den Fernsehalltag à la Kerner, Gottschalk oder Pilawa symbolisiert wird. Diese Welt funktioniert nur noch als Gameshow, in der überlebt, wer talkt.
Zeitsprung ins 17. Jahrhundert: Aus einer Talkshow-Intrige wird die Geschichte des Arzt wider Willen von Molière weitergesponnen. Da wird ein Ehemann zum Schuldigen eines nicht begangenen Verbrechens gemacht. In dieser erzwungenen Rolle versucht er, nicht vorhandene Krankheiten zu heilen. Seine Mission, Liebende zu vereinen, ist von Beginn an nur eine Farce.
Da wird Verwirrung gestiftet, wo eine Sinnfrage scheinbar keinen Platz mehr hat. Wer Lust hat, sich auf dieses Konglomerat aus Zitaten einzulassen, kann sich an der Darstellung der sechs SchauspielerInnen erfreuen. Etwas fürs Auge sind Antoni Knigges Kostüme, die die Charaktere phantasievoll unterstützen, ohne auf Krampf verstören zu wollen.
Stefanie Heim
Fr, 18. und Sa, 19. Juni, jeweils 20 Uhr, Kulturbahnhof Altona, Har-kortstraße 81. Fr, 25. und So, 27. Juni, jeweils 20 Uhr, Zelttheaterfestival, Schanzenpark
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