Gandhi, Guru, Globalisierung

Das südindische Bangalore gilt wegen seiner Softwareindustrie als Silicon Valley des Subkontinents und profitiert wie keine zweite indische Stadt von der weltweiten Globalisierung. Doch deren Kosten und Nutzen sind höchst ungleich verteilt. Ein Streifzug durch Bangalore offenbart Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung.  ■ Von Sven
Hansen

Die Preise für Grundnahrungsmittel sind durch die Globalisierung gestiegen“, klagt Ruth Manorama. „Die Regierung wurde gezwungen, die Subventionen für Nahrungsmittel und Gesundheitsversorgung zu kürzen.“ Die korpulente 45jährige Sozialarbeiterin organisiert in den Slums der südindischen Boomstadt Bangalore Frauen der kastenlosen Dalits, der Unberührbaren, die Mahatma Gandhi einst als Harijans (“Kinder Gottes“) bezeichnete. Das Sanskritwort Dalit, das „zertreten“ bedeutet, benutzt die in einen gelben Sari gekleidete Manorama mit Stolz. „Den Namen haben wir uns selbst gegeben“, sagt sie. Die Mutter zweier Töchter bezeichnet sich als „Undergroundleader“. Ihr Traum: eine der 200 Millionen Dalits zu organisieren. „Das wäre ein großer Durchbruch.“ Zu ihrer Organisation Women's Voice gehören 15.000 Slum-Frauen. In den 700 Slums der Stadt mit sechs Millionen Einwohnern sind 90 Prozent Dalits.

Im Schatten eines bunten Zeltdachs, das sonst für Hochzeitsfeiern vermietet wird, treffen sich hundert Frauen von Womens' Voice und beobachten, wie in Sketchen die Verhandlungen zwischen der indischen Regierung und der Weltbank nachgespielt werden: Der von einer Frau gespielte Regierungsvertreter hat dem ebenfalls weiblichen Bänker aus Washington nichts entgegenzusetzen. „Um die Armut zu beseitigen, muß der Mindestlohn angehoben werden“, sagt Manorama. „Globalisierung nützt nur den Reichen und einigen der Mittelschicht. Die Slumbewohner brauchen Unterstützung und Schutz vor Vertreibung.“

Einige Kilometer weiter in der Mahatma Gandhi Road, dem Ku'damm Bangalores, arbeitet im achten Stock eines Hochhauses Christian Rich. Der 36jährige ist Vizepräsident der Deutschen Software India, einer Tochterfirma der Deutschen Bank. Rich ist der einzige Deutsche unter den 270 Angestellten. Die 230 Softwareentwickler sind per Standleitung mit den Zentralen der Bank in Frankfurt und Singapur verbunden und schreiben von Bangalore aus Programme für die Rechenzentren und Filialen. „Man hat in Indien erkannt, daß die Globalisierung eine Chance ist, zügiger voranzukommen“, meint Rich.

Seit dem Durchbruch der Liberalisierung 1991 boomt die indische Softwareindustrie. Ihr Zentrum ist Bangalore, obwohl andere Städte inzwischen aufgeholt haben. „Wir müssen weder Steuern auf Firmengewinne noch Im- oder Exportzölle zahlen“, sagt Rich. Während in Europa oder Nordamerika der Markt für Softwareentwickler leergefegt ist, seien sie in Indien leichter und viel preiswerter zu finden. Laut Rich beträgt das Jahresgehalt seiner Angestellten 20.000 bis über 100.000 Mark.

Indien profitiert vom Knowhow-Transfer und den Arbeitsplätzen, die wir schaffen“, meint Rich. Fast alle großen indischen Softwarefirmen seien von Leuten gegründet worden, die zuvor bei ausländischen Konzernen gearbeitet hätten. Zwar lasse die Liberalisierung zum Beispiel bei der Telekommunikation zu wünschen übrig. Aber die Globalisierung behindern nach Richs Ansicht eher deutsche als indische Behörden. „Es ist sehr schwierig für unsere indischen Mitarbeiter, die in Deutschland arbeiten, von deutschen Behörden innerhalb weniger Wochen längerfristige Visa zu bekommen.“

Vom Stadtzentrum führt eine Straße vorbei an alten Fabriken und einem modernen Technologiepark aus Marmor und Glas nach Whitefield. Jährlich pilgern aus aller Welt Zehntausende hierher, um im Ashram des Guru Sai Baba spirituelle Energie zu tanken. Zweimal täglich meditiert der Meister hier oder an seinem Hauptsitz Putapathi in Andhra Pradesh mit seinen Anhängern. Zahlreiche Rentner aus Industriestaaten verbringen hier ihren Lebensabend.

Vor dem Ashram werden Poster von Sai Baba und Sitzkissen verkauft. Die Atmosphäre ist friedlich, eine Affenhorde streunt ohne Scheu über das Gelände. Am Hauptplatz steht eine moderne weiße Halle ohne Wände mit weiß-schwarzem Marmorboden. Die Stirnseite zeigt überlebensgroße Fotos von Swami (“Priester“), wie der 73jährige Guru mit den langen Afrolocken hier ehrfurchtsvoll genannt wird. Nach Geschlechtern getrennt warten die weiß gekleideten Pilger vor der Halle auf Einlaß zum nachmittäglichen Bajan, dem meditativen Gesang. Ordner tasten sie mit einem Metalldetektor ab, die Halle füllt sich bis auf den letzten Platz. Als Sai Baba – kleiner und älter als auf den Fotos – schließlich kommt, falten die 3.000 Gläubigen die Hände über dem Kopf, klatschen im Rhythmus der Musik, schließen die Augen, verfallen in Trance oder bewegen sich ekstatisch. Der orange gekleidete Guru setzt sich auf einen Thron und bewegt die rechte Hand im Takt. Nach einer halben Stunde ununterbrochener Musik und immer schnelleren Klatschens entzündet Sai Baba eine Öllampe, bevor er, ohne ein Wort gesagt zu haben, wieder entschwindet.

„Die Flamme dient der Reinigung“, erklärt Rolf Leibbrand. Der arbeitslose Goldschmied aus Berlin-Kreuzberg ist schon zum dritten Mal in Whitefield und jedes Mal gestärkt nach Hause gekommen. An der Lehre des Sai Baba, die bei dieser kurzen Stippvisite unklar bleibt, fasziniere ihn die große Toleranz. So seien im Ashram, dessen Logo die Symbole aller Weltreligionen zeigt, sämtliche Glaubensrichtungen respektiert.

Auch Ravi Melvani läßt sich von einem Guru inspirieren, er hat allerdings auch amerikanische Managementmethoden verinnerlicht. Dem 32jährigen Sohn eines Textilhändlers gehört das größte Kaufhaus Indiens; es ist auf Kinderspielzeug und Saris spezialisiert. Von außen gleicht „Kemp Fort“, so der Name des Hauses an der Airport Road, einer Ritterburg mit roten und blauen Türmen. Vor dem Eingang stehen eine Roboterfigur, Bugs Bunny und salutierende Ritter; drinnen bieten Angestellte kostenlos Getränke an und Snacks. Im Hintergrund tönt Klaviermusik: „Für Elise“. „Unser Konzept ist, Einkaufen mit Spaß und Unterhaltung zu verbinden“, sagt der schnauzbärtige Eigentümer, auf dessen schwarzer Krawatte sich Marilyn Monroe räkelt.

Sechs Monitore stehen auf Melvanis Schreibtisch, die ihn das Haus überblikken lassen. Auf einem der Bildschirme ein Bild seines Gurus. Auf Knopfdruck ertönt die Stimme des Meisters. Melvani erzählt, das Kaufhaus habe jeden Tag geöffnet. Die Kunden stammen aus der Ober- und Mittelschicht, auf Wunsch werden sie kostenlos vom Hotel abgeholt. Arme Leute dürfen hier auch unentgeltlich spielen, sofern sie ordentlich gekleidet sind. Die Puppenabteilung verkauft die klassische Barbie hellhäutig mit blondem Haar und Minirock oder schwarzhaarig mit dunkler Haut und indischem Sari. „Ausländer und im Ausland lebende Inder kaufen nur die indische Barbie, die Inder aus Bangalore dagegen das westliche Modell“, erzählt der Verkäufer. Das meiste Spielzeug scheint aus China zu stammen, doch Melvani beteuert, die Hälfte käme aus Indien. Der Erfolg des vor eineinhalb Jahren eröffneten, zwanzig Millionen US-Dollar teuren Kaufhauses läßt noch auf sich warten. Doch Melvani ist optimistisch. „Indien hat Ressourcen: Land, Menschen und einen riesigen Markt. Wir sind darauf angewiesen, daß Ausländer diese Ressourcen nutzen – zum beiderseitigen Vorteil.“

Professor M. D. Nanjundaswamy sieht das ganz anders. Der in Hamburg ausgebildete 62jährige Jurist ist Vorsitzender der KRRS, der Bauernvereinigung des Bundesstaates Karnataka, dessen Hauptstadt Bangalore ist. Nanjundaswamys Haus im Mittelschichtsviertel Vijaynagar ist zugleich das Büro der Organisation mit nach eigenen Angaben zehn Millionen Mitgliedern. „Unsere Regierung hat kein Rückgrat“, sagt der weißbärtige Bauernführer. „Das Weltwirtschaftssystem, wie es von der Welthandelsorganisation vertreten wird, ist die Durchsetzung des Kastensystems auf internationaler Ebene.“

Es gibt in Indien keine Kleinbauern mehr ohne Schulden“, sagt der Bauernführer, „durch die Globalisierung verlieren die Bauern die Kontrolle über ihr Leben.“ Für Nanjundaswamy sollten die Dörfer und die Kleinindustrie im Zentrum der Entwicklung stehen, wie es schon Mahatma Gandhi vorschwebte. „Indien braucht einen Vorhang aus Khagi“, sagt er. Diese selbstgesponnene Baumwolle propagierte Gandhi, um den Einfluß der britischen Textilindustrie zurückzudrängen. Indien müsse sich hinter einem Khagivorhang eigenständig entwickeln, sagt der Bauernführer. „Wir müssen unsere eigene Politik ohne externe Einflüsse formulieren.“ Dies hat Nanjundaswamy bei Demonstrationen bereits vor 500.000 Menschen gefordert. Er ist stolz, daß es Dank des starken Widerstands bisher kaum Filialen amerikanischer Fastfood-Ketten in Indien gibt.

Nanjundaswamys radikale anti-westliche Rhethorik unterscheidet sich kaum von der seiner größten innenpolitischen Gegner, den regierenden Hindu-Nationalisten. Deren Partei BJP hat trotz nationalistischer Sprüche die von der Kongreßpartei eingeführte Liberalisierung fortgesetzt. Der Bauernführer bezeichnet die BJP nur als „Heuchler“. Doch auch von der Slumführerin Ruth Manorama, die viele seiner Positionen teilt, will Nanjundaswamy nichts wissen. Lieber reist er mit vierhundert indischen Bauern durch Europa. Beim Weltwirtschaftsgipfel in Köln und beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart demonstrieren sie in diesen Tagen gegen die Globalisierung.

Sven Hansen, 38, ist taz-Redakteur für den Bereich Asien-Pazifik und Kolumnist des südkoreanischen Wochenmagazins Hankyoreh 21