: Die letzte Versuchung
Der Messias dankt ab: Marius Müller-Westernhagen im Tränenmeer von Bahrenfeld ■ Von Michael Hess
Liebe ist Macht“ hallt es durch das weite, funkelnde Rund. Immer wieder die selben drei Worte, so simpel wie eine Kirchentagslosung. Dazu läuft ein Video. Ein Fötus im Mutterleib wippt mit einer Hand im Takt, man sieht seine Geburt, den ersten Schrei, schließlich das verschwitzte Gesicht der glücklichen Mutter. Liebe ist Macht.
Jenes Pro-Life-Video ließ vermuten, es sei der Papst persönlich gewesen, der hier auf Stippvisite von Polen kommend seinen Schäfchen die Auswirkungen seines letzten Hirtenbriefs darlegte. Dabei war es nur eine Art Stellvertreter, der kurz darauf „Bin wieder hier“ sang und den schlacksigen Körper in die Pose des gekreuzigten Nazareners warf. Marius Müller-Westernhagen feierte am Sonnabend mit seinem letzten Konzert die vorläufig letzte Auferstehung und ließ dabei keine messianische Geste aus. Es war das größte Pop-Ereignis, das Hamburg je gesehen hat, ein Affentheater ohne gleichen. Über 100.000 Besucher, die größte Bühne und Videowand der Welt, das schönste Wetter, die längsten Staus, der meiste Müll und die ehrlichsten Tränen. Und das alles für 80 Mark.
Bei einem derartigen Spektakel tritt das Ereignis zwangsläufig hinter seine Inszenierung zurück. Erst recht bei jemandem wie Westernhagen. So blieb es fraglich, ob die quasireligiöse Verzückung der Masse von ihm ausging oder von der Masse selbst und dem Eindruck, den sie auf sich als Kulisse machte. In Südamerika gibt es manchmal Fußballspiele, zu denen so viele Menschen kommen, daß selbst eine Nullnummer zu einem unvergeßlichen Erlebnis wird. Ähnlich war es an diesem Abend. Die Bühne war eher schmucklos, und die komplizierte Lichttechnik mitsamt ihrer 35 Meter durchmessenden Videoscheibe hatte hartnäckig gegen einen Bahrenfelder Sonnenuntergang anzukämpfen.
Musikalisch war es die Nacht der Trittbrettfahrer, eine Cover-Band jagte die nächste. Westernhagen brachte schließlich fünfzehn Leute auf die Bühne, die redlich bemüht waren, den Sound der millionenfach verkauften Scheiben originalgetreu zu reproduzieren. Er selbst wirkte in seinem bordeauxrot changierenden Strampelanzug wie eine verjüngte Kopie, sprang von einer Ecke zur anderen und knatterte sich durch das bewährte Liveprogramm.
Schon während des Konzertes begann die Historisierung der Figur Westernhagen. Zu „Bin wieder hier“ flimmerten in schwarzweiß die biographischen Bildern dieser am Anfang recht stolperhaften, zum Schluß einzigartigen Karriere. Danach war Bahrenfeld ein feuerzeugflammendes Tränenmeer, dem die eingeblendete Uhr scheinbar gnadenlos Viertel nach Zehn anzeigte – time to go. So als stünde er immer noch mittellos auf einer kleinen Kneipenbühne flehte Marius: „Bitte stellt uns nicht den Strom ab, bevor wir fertig sind“.
Die dort oben, wir hier unten – Westerhagen könnte auf der Bühne in Champagner baden, sein Publikum wird in ihm immer den Verlierer und damit sich selbst lieben. Liebe ist Macht. Zum Schluß hat Westerhagen sie alle gefickt. Alle.
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