Hommage an die Wortkaskade

■ Jeder Stein ein Mythos, jede Kloake eine Epoche falscher Hoffnungen: Die „Teatri Uniti“ aus Neapel mit Moscatos „Rasoi“ unter der Regie von Mario Martone und Toni Servillo

Von Berlin aus kann man billiger nach New York als nach Neapel fliegen. Dorthin reisen höchstens Pasolini-Jünger und Kunsthistoriker. Die Welt hat die Stadt am Fuße des Vesuvs schon lange sich selbst überlassen, und auch in Italien galt sie lange als unveränderbar. Zuviel von allem: Dreck, Pisse und Sperma, Paläste und Kerker, Hunger, Hitze und Huren. In „Rasoi“ (Rasiermesser), einem großen Gesang über Neapel, erstickt die Stadt an ihrer Geschichte und ihren Klischees. Jeder Stein schwitzt Mythen aus, in jeder Kloake sind Epochen falscher Hoffnungen begraben. Alle Figuren in dem Stück von Enzo Moscato sind alt, müde, Wiedergänger und Wiederholungstäter, festgenagelt auf einem Karussell: der Blinde, der Gassenjunge, der Ganove und die Königin. Der Autor Moscato selbst spielt den wachsbleichen Dichter, der alles weiß; nur nicht, wie lange er selbst schon tot ist.

Denn Totes und Lebendiges mischen sich ununterscheidbar in seinem Bild der Stadt. Wie von der Lava des Vulkans verschlungen, erstarrt und wieder freigelegt wirken die Stationen aus der neapolitanischen Geschichte, die Moscato zitiert. Es gibt keine Interaktion zwischen den Erzählungen und theatralischen Deklamationen, in denen die Sprachstile verschiedener Zeiten und verschiedener Soziotope aufeinandertreffen. Der Vorhang, der die Figuren nach und nach freigibt, verschluckt sie am Ende auch wieder.

So gleicht „Rasoi“ dem Gang durch ein Museum der Erzählformen und wird zu einer Hommage an den Sprachrausch, die Wortkaskade, die Übertreibung, sei sie nun Gebet, Klage oder schimpfende Tirade. Denn die Lust an der mündlichen Tradierung hat das Theater in Neapel davor bewahrt, von den neuen Medien verdrängt zu werden. Die „Teatri Uniti“, hervorgegangen aus einem Zusammenschluß freier Gruppen ohne eigenes Haus, verkörpern nicht nur nach hiesigen Maßstäben ein Theaterwunder, haben sie es doch in einer Stadt ohne subventioniertes Theater geschafft, den Bogen von einer reichen Tradition in die Gegenwart zu schlagen.

Mario Martone, der „Rasoi“ 1991 zusammen mit Toni Servillo inszeniert hat, ist inzwischen als Direktor des Teatro di Roma berufen worden. Beim „Theater der Welt“ stellt er sich auch mit einer Inszenierung von Molières „Il Misantropo“ und Filmen des Theaterkollektivs aus Neapel vor. Sein Weg von der Peripherie ins Zentrum gleicht schon jetzt einer Legende. kbm ‚/B‘„Il Misantropo“: 23.–25. 6. , 20 Uhr; „Teatro di Guerra“: 24. 6., 21 Uhr, Theater am Ufer; „Rasoi“ und „Il Monologo de l'Altro Seguardo“, 25. 6., 19 Uhr, Arsenal