: „Ich liebe Lauryn Hill“
■ Den schwarzen Kontinent repräsentieren: Henry Louis Gates jr., Literaturwissenschaftler und Black Spokesman, über den Stand der Afroamerikanistik, das Widerstandspotential im HipHop und sein aktuelles Lieblingskind, die elektronische Enzyklopädie „Encarta Africana“
taz: Sie lehren Afroamerikanistik an der Harvard University. Wie beurteilen Sie den derzeitigen Stand ihres Fachs?
Henry Louis Gates jr.: Ich denke, Afroamerikanistik ist präsenter als jemals zuvor an amerikanischen Universitäten. Meine Universität, Harvard, hat mit einer enormen Initiative ein bedeutendes Forschungszentrum errichtet, wie auch andere sehr wichtige Forschungsuniversitäten in den USA. Dies ist ein sehr gutes Zeichen. Afroamerikanistik ist kein Kult wie die Freimaurerstudien mit ihren geheimen Logen (lacht) – es ist ein Fach, das jeder, der intelligent ist, studieren kann. Es ist entghettoisiert worden, es ist internationalisiert und offen für alle. Die besten Forschungsarbeiten in diesem Bereich kommen von Europäern oder Menschen europäischer Herkunft. Und das ist gut so.
In der Politik wurden Afro-amerikaner stets an den Rand gedrängt, auf dem Feld der Kultur spielen sie eine tragende Rolle. Eignet sich Kultur als Feld des Widerstands?
Auf jeden Fall. Aber Kultur ist nicht nur Mittel des Widerstands, Kultur kann zelebriert und verehrt werden. Für mich ist Afroamerikanistik nur ein Teil, aber ein wesentlicher Teil, dessen Motivation im Widerstand begründet liegt – Widerstand gegen die kursierenden Fiktionen von Kultur und Zivilisation und den Geisteswissenschaften, die die Präsenz der Afrikaner und der Afroamerikaner lange verleugnet haben. 1764 behauptete Kant, daß es keine Zivilisation in Afrika gebe, 1790 behaupteten Hegel und die philosophisch begründete Geschichtswissenschaft, daß es keine schriftliche Tradition in Afrika gebe – und somit Afrika keine Geschichte habe. Doch sie hatten Unrecht. Es existierten Schriftsprachen in Afrika, die weit vor das Römische Reich zurückgehen. Fakten einer schwarzen Vergangenheit zu etablieren hilft, eine festgeschriebene Erzählung zu widerlegen und eine Gegenerzählung zu entwerfen. Das ist für mich die ultimative Form von Widerstand, und wer ist besser dazu in der Lage, diese Form des Widerstandes zu leisten als Wissenschaftler oder Lehrer? Oft denken sie, daß sie an Demos teilnehmen oder Molotowcocktails werfen müssen oder irgendeinen anderen Unsinn machen. Was sie tun müssen, ist das, was wir am besten können: lehren.
Wie sehen Sie in diesem Kontext den Erfolg von HipHop?
Ich denke, daß HipHop lediglich Teil einer langen Tradition afroamerikanischer Musik ist, die zunächst marginal war und dann Mainstream wurde. 1925 war Jazz eine sehr radikale alternative Kunstform, zehn Jahre später tanzten alle weißen Mittelklasse-Amerikaner Samstagnachts mit ihren Ehepartnern zu Big-Band-Musik. Jeder liebte Jazz, und er wurde domestiziert. Weil der Jazz seine radikale Schärfe behalten wollte, wurde BeBop in den späten 40ern und frühen 50ern aus der Taufe gehoben. Rap und HipHop waren eine Reaktion auf Disco-Musik, die einfach nur – uuuäääh! – peinlich war (lacht). Die heutige HipHop-Dominanz stellt für mich nichts Außergewöhnliches dar, sie ist kein singuläres Phänomen. Aber ich denke, als Rap erfunden wurde, waren die Inhalte sehr radikal, die Musik war sehr radikal. Nun werden 70 Prozent der Rap-Musik von weißen Mittelstandskids aus den Vororten konsumiert, und ich glaube, dabei ist auch viel Voyeurismus im Spiel. Die Hörer haben Zugang zu einer Undergroundkultur und können zugukken, ohne dafür bestraft zu werden (lacht). Auch ich mag HipHop, ich liebe Lauryn Hill. Aber ich mag nicht alles. Einiges wiederholt sich zu oft und ist langweilig.
Liegt im HipHop ein besonderes Widerstandspotential?
Nein, das denke ich nicht, denn ich glaube nicht, daß Menschen durch Kultur befreit werden, obwohl Kultur natürlich die Politik beeinflußt. Menschen werden befreit durch Politik, durch militärische Aktionen oder durch radikale Veränderungen in ökonomischen Beziehungen, und ich denke, daß die Kultur dies reflektiert. Aber während dieses Jahrhunderts glaubte man sehr, sehr lange daran, daß Schwarze lediglich eine ausreichend radikalisierte Kultur hervorbringen müßten, um sich selbst zu befreien. Wir haben es versucht, aber es hat nicht funktioniert.
Im heutigen HipHop wird viel von Konsumartikeln gesprochen und Luxus glorifiziert. Ist das nur Parodie?
Die Bezugnahme auf Markennamen und Konsumgüter beinhaltet sicher für einige Künstler einen Aspekt von Parodie oder Kritik. Aber ich glaube, daß es für viel zu viele nur eine Beschönigung der Welt ist, in der sie leben. Es ist krasser Materialismus, und ich glaube nicht, daß Schwarze frei von diesem Denken sind – bezogen auf Konsum sind wir genauso schuldig wie jede andere Gruppe in den Vereinigten Staaten. Wenn es in den Innenstädten Schwarze gibt, die sich wegen eines Paars 150-Dollar-Nike-Turnschuhe bekämpfen oder gar erschießen, dann frage auch ich mich, wie weit man gehen oder kommen kann.
In Ihrem Buch „The Future Of The Race“ sagen Sie, daß sich die bloße Idee einer „Black Leadership“ in einer Krise befindet. Was heißt das?
Ich bin ein Produkt von Affirmative Action. Ich ging nach Yale und beendete Yale im September 1969 mit 96 anderen Schwarzen. In der Klasse, die 1966 graduierte, waren nur sechs Schwarze. Gab es etwa eine genetische Mutation, daß da plötzlich 90 Schwarze gescheiter waren? Nein, es gab strikte Quoten bei der Anzahl Schwarzer, die solche Schulen besuchen konnten, und ich habe davon profitiert. Viele meiner Generation sind erfolgreich. Das bedeutet, daß sich die schwarze Mittelklasse seit 1969 verdreifacht hat, und das bedeutet, daß wir eine breitere Führungsebene haben, auch eine politische. Wir haben über 40 schwarze Abgeordnete im Kongreß, in der Wall Street, wir haben schwarze Doktoren, schwarze Anwälte, schwarze Leichenbestatter (lacht). Die Tage sind vorbei, als wir einen Erlöser, einen Martin Luther King hatten, der uns in unsere Freiheit führt. Und das ist wahrscheinlich gut so, denn es ist schwieriger, eine ganze Bewegung zu töten. Ich denke, wir müssen herausfinden, wie wir die einzelnen Bereiche der vielen verschiedenen lokalen Führungsebenen und deren erzielten Erfolge in ein kohärentes, vereinigtes Ganzes zusammenführen. Das ist es, was wir als Akademiker in dem Bereich der Afroamerikanistik versuchen, und ich glaube, daß wir das auch als Gesellschaft versuchen müssen.
Früher haben Sie das Wort „race“ immer in Anführungszeichen gesetzt, in dem Buch „The Future Of The Race“ haben Sie darauf verzichtet. Warum?
Meine Einstellung, daß die Kategorie „race“ eine soziale Fiktion ist, ein soziales Konstrukt, sie hat sich nicht geändert. Es ist lediglich ermüdend, ständig Anführungszeichen zu setzen.
Welche Idee liegt der „Encarta Africana“ zugrunde, die von Ihnen mit konzipiert wurde und die kürzlich auf CD-ROM erschienen ist?
Wir wollten zeigen, daß Menschen afrikanischer Herkunft seit Tausenden von Jahren prächtige Zivilisationen hervorgebracht haben, und daß Menschen afrikanischer Herkunft seit Tausenden von Jahren zur Weltkultur beitragen. Zum Beispiel der heilige Moritz, einer der bedeutendsten Heiligen der römisch-katholischen Kirche – er war ein Handelsreisender aus Afrika. Er wurde heiliggesprochen, weil die Kirche im Heiligen Land Verbündete im Kampf gegen die Mauren gewinnen wollte, und so konnte der Kampf internationalisiert werden. Wir zeigen, daß es in Deutschland über 200 Kirchen mit Heiligenbildern des schwarzen heiligen Moritz gibt.
Beethoven haben wir allerdings nicht in dieser Enzyklopädie aufgenommen – obwohl es diesen großen Mythos gibt, daß Beethoven schwarz gewesen sei. Wenn er schwarz gewesen wäre, dann wäre die Eröffnungsmusik für dieses Projekt die Neunte Symphonie geworden (lacht).
Die Idee zu einer solchen Enzyklopädie stammt von W. E. B. DuBois, nicht wahr?
DuBois hatte schon 1909 die Idee, daß die Publikation einer umfassenden Enzyklopädie, ein schwarzes Äquivalent zur Encyclopedia Britannica, die Unabhängigkeit von Afroamerikanern befördern würde. Erfolglos versuchte er sein ganzes Leben lang, dieses Projekt anzugehen. Schließlich begann er damit 1961 in Ghana, doch leider starb er, bevor er es beenden konnte. Bis zu diesem Tag existiert das Projekt in Ghana, aber es ist auf Afrika beschränkt.
Als ich Student in Yale war, erfuhr ich davon. In England lernte ich den nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka kennen, meinen Doktorvater, und meinen Freund Anthony Appiah, heute Philosophieprofessor in Harvard. Vor 25 Jahren schlossen wir drei einen Pakt, daß wir alles versuchen würden, diese Enzyklopädie herauszubringen. Wie durch ein Wunder haben wir sie 25 Jahre später fertiggestellt. Microsoft hat sie als CD-ROM herausgebracht, und ein Verlag wird sie im November als 2.000seitiges Buch veröffentlichen.
Nach welchen Kriterien haben Sie das Material ausgewählt und zusammengestellt?
Bei einer Enzyklopädie geht man von A bis Z vor, aber es ist total willkürlich: Wenn Martin Luther King einen Artikel über 2.000 Worte wert ist, wie viele Worte ist dann ein Artikel über DuBois wert? Es ist das willkürlichste, künstlichste Unternehmen, an dem ich je teilhatte.
Was gefällt Ihnen am besten an der CD-ROM?
Die virtuellen Touren. Wenn man die Maustaste festhält und durch die Straßen von Paris geht, wo schwarze Autoren zusammenkamen, oder durch Harlem spaziert, wo Schwarze leben, oder Salvador de Bahia an der Ostküste Brasiliens besucht, das bedeutendste Zentrum der Yoruba-Kultur in der Neuen Welt. Das ist fantastisch.
Sie hatten nur 15 Monate, diese Enzyklopädie fertigzustellen. Wie war das möglich?
Wir brauchten eine Armee von Wissenschaftlern. 400 Lehrer und Wissenschaftler schrieben 225 Millionen Worte in 15 Monaten. Wir fühlten uns wie im 18. Jahrhundert zur Zeit von d'Alembert und Diderot. Um dies zu symbolisieren, schenkte mir Appiah diese Weihnachten eine Erstausgabe der Encyclopedia Britannica. Im 18. Jahrhundert war die Aufklärung eine bedeutende Epoche für Enzyklopädien, und für uns ist dies nun auch eine Art intellektueller Aufklärung. Interview: Ellen Köhlings
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