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Drinks für die Happy-Anthro-Hour

■ Rudolf Steiner revolutioniert postum klassische Cocktailrezepte

Seit Urzeiten versucht die Menschheit, sich ganzheitlich zu berauschen. Noch heute haben Vatertagswanderungen, Oktoberfest und Love Parade nur einen Zweck: Sie sollen dem Individuum das Vergnügen eines wachkomatös-entspannten Wandelns im Hier und Jetzt ermöglichen. Doch dank einer aufsehenerregenden Entdekkung im schweizerischen Dornach scheint das Leben ein wenig leichter zu werden, denn dem Wunsch nach dionysischer Ausschweifung muß nicht mehr durch teure und beschwerliche Reisen zu Massenveranstaltungen nachgegangen werden.

Zukünftig genügt der kurze Weg ins Reformhaus, um sich in der Hausbar einen Cocktail nach „anthroposophischer Menschenerkenntnis“ zu mixen. Denn in den Katakomben des Goetheanums, der Hochschule der Anthro-Bewegung, wurde das Manuskript „Mein anthroposophisches Barbuch“ von Rudolf Steiner entdeckt und ist soeben als Band 355 der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe erschienen.

„Für eine ganzheitliche Lebensweise ist es unbedingt notwendig“, so Steiner im Vorwort des edel ausgestatteten Buches, „daß auch die Barkultur vom anthroposophischen Geiste durchtränkt wird.“ Eskapistische Besäufnisse sollte es nach Steiners Vorstellung nicht mehr geben, der Alkoholkonsum würde in das Konzept der Heil-Eurythmie integriert werden, denn der Vater der Anthroposophen sah hier einen Weg zur „exakten Erkenntnis der übersinnlichen Welten“. Es bedarf in den klassischen Cocktailrezepten nur weniger, aber dafür entschiedener Veränderungen mit nach „kosmischen Rhythmen“angebauten Produkten aus dem Repertoire alternativer Ernährung, und schon kann der anthro-alkoholische Spaß beginnen, der jedes Theosophenherz höher schlagen läßt.

Starten wir mit einem Aperitif, dem in der weltlichen Rezeptur aus Gin und Wermut bestehenden Martini, der bei Steiner „Isis und Madonna“ heißt: Ein Teil Gerstentrank, auch Barleywater genannt, wird mit fünf Teilen Balsamischem Melissengeist kurz auf Eis gerührt. Mit diesem 63prozentigen Destillat liefert das Haus Weleda seinen härtesten Stoff. Was bei Ohnmachtsneigung und Gesichtsneuralgien hilft, kann auch – selbstverständlich mit einer biologisch-dynamischen Olive verziert – zum lockernden Auftakt einer Party nicht schlecht sein, verspricht Weleda doch zudem „eine wohltätig durchwärmende krampflindernde Wirkung auf die rhythmische Tätigkeit der Stoffwechselorgane“.

Um so richtig in „Johanni-Stimmung“ zu kommen, empfiehlt Steiner seine „Waldorf-Margarita“: 2 cl Schlehen-Ursaft, der „Spannkraft gibt und erfrischt“, 2 cl Birken-Elixier und 4 cl hochprozentig vergorener Agavendicksaft. Kräftig schütteln, in vorgekühlte Cocktailschale mit grobem Meersalzrand abseihen und eine Prise Myrrhe drüberstreuen. Zum Wohl!

Die Fachwelt ist begeistert. Deutschlands renommiertester Barkeeper, Charles Schumann, kredenzt in seiner Münchner Bar bereits Steinersche Zaubertränke wie den „Urmensch Reviver Nr. 1“ und wird die Rezepte seines eigenen Barbuchs nach ganzheitlichen Erkenntnissen überarbeiten. Wo Schumann einen starken Zombie serviert, da demonstriert uns Steiner, wo der anthroposophische Hammer hängt: „Lucifer-Gnosis“ heißt das stärkste Pferd in seinem Spirituosen-Stall: 4 cl Demeter Sauerkrautsaft, ein paar Spritzer „mild abführender“ Californischer Pflaume, 2 cl Rote-Bete-Saft, 2 cl Holunder-Elixier „zur Aktivierung der Wärmeprozesse“, 2 cl Arnikatinktur, 4 cl Sanddorn-Schnaps und 6 cl Balsamischer Melissengeist. Schütteln, Glas mit Crushed ice auffüllen, und die abgekämpfte Eurythmistin wird Kraft für neue Tänze schöpfen. Diese und viele weitere Kompositionen, stets klug kommentiert und in den ganzheitlichen Lebenswandel eingeordnet, finden sich in Steiners Barbuch und machen die 68 Mark für den Leinenband zu einer lohnenden Investition.

Kurz vor seinem Tod 1925 entschloß sich Steiner, zum Abschluß des Lebenswerkes der Welt endlich von seinen Cocktailideen zu künden, deren Fernziel, „die Ätherisation des Blutes“, er schon in einem früheren Werk propagiert hatte. Die Vortragsreise führte ihn auch ins Wuppertal, wo er auf trinkfeste Anhänger traf: „In Elberfeld gab's Radau. Es ist ziemlich anstrengend, da ich fast überall bis früh am Morgen durchtrinken muß.“ Klemens Brysch/ Christian Kortmann

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