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Der Sozialscan

Der Kunstverein zeigt Stadtaufnahmen aus den vergangenen fünfzig Jahren  ■ Von Hajo Schiff

Einst hieß es, Stadtluft mache frei. Heute leben achtzig Prozent aller Europäer in Städten. Und müssen sich so manchen Zwang auferlegen. Ihr Lebensumfeld verändert sich ständig: Der öffentliche Raum geht an den Verkehr verloren, die Marktplätze sind privatrechtlich definierte Einkaufsorte.

Wie sich Erscheinung und Nutzung der Stadt von zerbombten Brachflächen bis zu seltsam gewundenen Fußgängerbrücken gewandelt hat, demonstrieren die Stadtfotos im Kunstverein. Während die meisten anderen Schauen der 1. triennale der photographie auf ästhetische Qualitäten oder den fragwürdigen Wirklichkeitsanteil von Fotografie zielen, geht es dem Kunstvereinsdirektor Stephan Schmidt-Wulffen eher um eine politische Position. Ob Reportage oder Kunstfoto, ob aus Ost oder West, die Stärke der konventionell gehängten, überwiegend schwarz-weißen Bilder ist ihr Thema.

Im Vergleich erschließt sich wechselndes städtisches Lebensgefühl; zugleich sind Ähnlichkeiten und Wandel der Fotografenstandpunkte zu bemerken. So findet sich neben der Tristesse niederrheinischer Vororte von Wilhelm Schürmann die von Ulrich Wüst dokumentierte Unwirtlichkeit Magdeburgs zu DDR-Zeiten. Da trifft die Typisierung einer Münchner Hochhaussiedlung durch Herlinde Koelbl auf die unterkühlte Sachlichkeit, mit der der Becher-Schüler Thomas Struth die Leere der Münsteraner Altstadt zeigt.

„Wir sind die Terroristen und grüßen die Touristen“, verkündet ein Spruchband auf Wolfgang Krolows Bildern die Rückeroberung des Straßenraumes durch die Kreuzberger Hausbesetzer- und Punkszene. Auch Collagen, geschichtete 450-Grad-Panorama-Ansichten und die filmisch-musikalischen Bildpartituren von Thomas Leuner zeigen, daß unsere Städte nicht immer tot sind. Doch ein Einzelbild vermag weniger über eine komplexe Situation auszusagen als die Reportage.

Das belegen der stern-Bericht „DDR von innen“ von Rolf Gilhausen und Robert Lebecks wegen des wenig später erfolgten Mauerbaus nie veröffentlichte Fotostrecke über die Neuköllner Karl-Marx-Straße, wo West und Ost 1961 noch gemeinsam einkauften. Im großen Ausstellungsraum dienen die Bilder als Blicke aus dem Fenster, verweisen auf die Realität des Dargestellten.

Doch so ungebrochen mag der Kunstverein die Bildtheorie nicht stehenlassen: Im kleinen Raum wird ein sechzigteiliger Zyklus der Amerikanerin Sherrie Levine gezeigt. Fotografie als eigene Realität: Levine refotografiert Arbeiten berühmter männlicher Kollegen. Hier zeigt sie Pariser Wohnungen, die Jean Eugene Atget vor hundert Jahren mit seiner Plattenkamera ablichtete. So wird der Blick auf die Fotografie gleich zweimal gewendet: vom umkämpften Außenraum zum privaten Interieur, von individueller Sichtweise zu feministischer Infragestellung der Autorenschaft.

Kunstverein in Hamburg, Klosterwall 23, Di-So 11-18, Do bis 21 Uhr, bis 22. August. Führungen sonntags, 14 Uhr

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