: „Echt süß“ vorm Klo rumstehen
■ Helden alternativer Musik trafen beim Hurricane-Festival in Scheeßel auf nettes Publikum
„Gut, daß man Männer ist!“ sagte erleichtert einer, der seiner Blase an dem Zaun um den Eichenring Erleichterung verschaffte. Die anderen mußten nämlich Schlange stehen, um Wasser abschlagen zu können, weil mal wieder zu wenig Toiletten aufgestellt waren.
Was den Veranstalter, erfreut, nämlich der Verkauf sämtlicher Eintrittskarten für das diesjährige Hurricane-Open-Air, ist nicht zwangsläufig auch zum Glück der Zuschauerschaft in ihrer materiellen Massierung geeignet. Daß das Lagerleben, besser beleumdet als Camping, unter Geschmackssachen zu behandeln ist, sei bereitwillig konzediert. Daß Schlangestehen in Folge der entsprechenden Konditionierung als Teil kultureller Identität durchgehen könnte, sei hier zwar argwöhnisch beäugt, aber auch noch unter Läßlichkeiten abgebucht. Ob allerdings etwas anderes als mutwillige Ignoranz die offensichtlichen Mangelhaftigkeiten des diesjährigen Hurricane-Festivals mit seinen 40.000 BesucherInnen vertuschen konnte, ist eher unwahrscheinlich. Daß sich die Laune trotzdem mal wieder niemand verderben lassen wollte, ist unterdessen ein bekanntes Phänomen.
Ist ja auch nicht schwer: Sich auf die schönen Dinge konzentrieren. Das Odeur überlasteter sanitärer Anlagen unter Atmo abbuchen, wie die fast den Aggregatzustand wechselnde Luft im Zelt. Bierstände zum Erfrischen gab's genug, und zumindest dort gab es keine Schlangen. Inmitten des dichtgedrängten Musikprogramms war so wenig zu verpassen. In Entscheidungsnot gerieten vor allem solche, die z.B. sowohl Calexico als auch Blumfeld gern komplett gesehen hätten. Oder auch nur Calexico, ohne sich in deren feinst gespieltem Roots-Rock über das schlimme Geknödel der dänischen Kashmir ärgern zu müssen, die noch spielten, als Calexico begannen, welche wiederum noch spielten, als bereits Jochen Distelmeyer in weißem Anzug auf der in diesem Jahr noch größeren großen Bühne stand und sein Publikum „echt süß“ fand.
Vorher und nachher ging es ebenso lückenlos wie eben teils synchron weiter. Die Fantastischen Vier erfreuten in großem Stil, trotz kirchentagsverdächtigem Appell, daß wir nun wirklich mal auf unseren Planeten aufpassen müßten, weil wir ja auch alle verantwortlich sind und so weiter. Die Hellacopters ließen die Schweinerock-Sau heraus, Stereolab machten die Staubpartikel in der heißen Luft mit ihren Prog-Pop-Songs ebenso tänzeln wie ihre Kollegen von Pavement. dEUS coverten 'Eisbär' von Grauzone, und natürlich sangen bei Blur wie bei den öden Liquido alle mit. Ach ja, Marilyn Manson war auch da, zeigte seinen Hintern und spielte Glam-Metal, aufgeputzt mit ein paar synthetischen Spritzern, die in Zusammenarbeit mit einer aufwendigen Licht-Show die Dramatik beförderten, die der Musik leider nicht innewohnt.
Kleinere Überraschungen gab es auch. Motorpsycho wurden frenetisch gefeiert und durften sogar eine Zugabe spielen. 'Vortex Surfer', seit kürzerem der Abschluß jeder Motorpsycho-Show, geriet schließlich zum Triumph, einschließlich Wunderkerzen und lauthalsigem Mitsingen, so daß alte Fans bereits argwöhnten, die Band in Bälde zu den Akten legen zu können. Courtney Love von Hole war eine echte Königin, rockte in einem rosa Kleid und mit dem Fuß auf der Monitor-Box und holte einen Haufen Girlies auf die Bühne, die dann vor dem Schlagzeug sitzen und sogar den Hole-Quotenmann an der Gitarre um Zigaretten anschnorren durften. Da wollten alle kleinen Mädchen so sein wie Courtney, und die Jungs hätten sie am liebsten geheiratet. War toll.
Außerdem überzeugten die neuen Pfandbecher, weil sie einen Henkel hatten, mit dem die Becher auch an der Hose getragen werden konnten. Die waren offensichtlich sogar so überzeugend, daß am zweiten Tag aus Mangel an behenkelten auf gewöhnliche Becher zurückgegriffen wurde. „Da hat sich wirklich mal jemand Gedanken gemacht“, murmelte versonnen ein glückselig Grinsender vor sich hin.
Wie sehr die Kalkulation des Hurricane-Festivals auf Kosten des ungetrübten Genusses ging, wurde nochmals am Ende sinnfällig. Die Chemical Brothers berockten mit schönster Intensität und massiven Bässen noch das Zelt, als bereits Massive Attack den Abschluß des Festivals einleiteten. Die Melancholie, die deren vergleichsweise zartgesponnen Stücken entströmt, wurde noch über eine Viertelstunde lang durch die satten Beats der Chemical Brothers unterlaufen.
Klar wurde sich amüsiert, trotz allem. Aber daß es mal wieder zum Trotze von etwas geschehen mußte, ist doch schade, oder?! A. Schnell Klar wurde sich amüsiert, trotz allem. Aber daß es mal wieder zum Trotze von etwas geschehen mußte, ist doch schade, A. Schnell
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