: „Mehr Demokratie in Bremen“?
■ Interview mit Prof. Roland Geitmann, Verfassungsrechtler von der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Kehl am Rhein
Am Freitag haben Experten für mehr Möglichkeiten von Volksbegehren und Volksentscheiden im Städtestaat Bremen gestritten. Einer von ihnen war der Verfassungsrechtler Prof. Geitmann aus Kehl in Baden-Württemberg. Wir fragten ihn nach dem demokratischen Süd-Nord-Gefälle.
taz: Der erdrückende Wahlsieg der großen Koalition erinnert an bayerische Verhältnisse. Die Mehrheit der bayerischen Bevölkerung will gar keinen demokratischen Wechsel, dennoch gibt es in der Verfassung erstaunliche plebiszitäre Elemente. Ist das die Großzügigkeit derer, die fest im Sattel sitzen?
Roland Geitmann: Die Nachkriegssituation in Bayern war keine CSU-Mehrheit. Der Ministerpräsident Wilhelm Högner war ein Freund von direkter Demokratie ...
... und die plebiszitäre Tradition geht so weit zurück?
Ja. In der ersten Verfassung ist das Volksbegehren günstig verankert, es gab zwei Dutzend Versuche, sechs davon hatten Erfolg.
Hat der stabile CSU-Machtapparat sich angefreundet mit dem plebiszitären Instrumentarium?
Die CSU hat Wurzeln, die man vielleicht hier im Norden nicht so wahrnimmt, wo das Volksnahe immer ein Bestandteil war. Sicher überwiegend in einem paternalistischen Sinne. Bayern versteht sich als Volksstaat, jede Verfassungsänderung muß vom Volk entschieden werden. Wichtig ist sicherlich die Nähe zur Schweiz. Das hat das politische Leben ein wenig geprägt und dann den ersten erfolgreichen Volksentscheid 1995 ermöglicht, der auf Initiative des Vereins „Mehr Demokratie“ zur Einführung des Bürgerbegehrens und Bürgerentscheids auf kommunaler Ebene führte.
Welche Erfolge gibt es sonst?
Vier mittelbare Erfolge gab es, wo die Landtagsmehrheit dem Interesse des Volksbegehrens Rechnung trug: Abschied von der Bekenntnisschule, Rundfunkfreiheit, Müllpolitik. Und eben der von 1995. Dieses kommunale Instrument wird von allen, auch von der CSU, intensiv genutzt. Wir haben in drei Jahren 679 Bürgerbegehren gehabt, in den mehr als 2.152 Gemeinden hat es 370 Bürgerentscheide gegeben. Im statistischen Mittel erlebt jede Gemeinde alle 17 Jahre einen Bürgerentscheid.
Wenn Sie aus dem schwarzen demokratischen Süden nach Bremen kommen – verstehen Sie die Widerstände der SPD gegen plebiszitäre Formen?
Mit Mühe. Politiker tun sich schwer, der Bevölkerung punktuell Verantwortung zuzubilligen. Das ist der Schritt, den die gegenwärtige Politiker-Generation tut.
Die Bayern waren 50 Jahre früher.
Und die Sonne ist im Süden auch intensiver. Italien, Österreich, Schweiz nehmen das Instrument reger wahr als Länder im Norden, da ist Bremen kein Einzelfall. Es gibt ein Süd-Nord-Gefälle.
Was müßte man in Bremen ändern, um auf bayerisches Niveau zu kommen?
Das bayerische Niveau ist nicht mehr das zeitgemäße. In den Verfassungen der neuen Bundesländer sind weitergehende Verfahrensregeln aufgenommen. Nur haben sie noch nicht diese Praxis, das hat eigene Gründe. In dem Entwurf von Mehr Demokratie wird als Zustimmungs-Quorum fünf Prozent der letzten Landtagswahl vorgeschlagen, kein Thema soll ausgeschlossen sein. Bis hin zu wichtigen, scheinbar kleinen Fragen wie der Rückzugsklausel: Die Initianten müssen ihr Volksbegehren zurückziehen können, das heißt: Sie müssen die Möglichkeit haben, in Verhandlungen zu treten und vermittelnde Lösungen zu suchen. Das ist in der Schweiz längst selbstverständliche Praxis.
Das kann man in Bremen nicht?
Das wird vom Bremer Senat für verfassungswidrig gehalten.
Was ist das typische Beispiel im Süden für kommunale Volksentscheide?
Die meisten Themen sind Bauleitpläne und Straßenprojekte.
Bei Entscheidungsrechten für die direkt Betroffenen wird befürchtet, daß Partialinteressen der Anwohner sich durchsetzen können.
In Sachsen, Hessen und auch in Bayern wird das nicht befürchtet. Mit welcher Begründung will man überhaupt etwas ausschließen von der Entscheidung des Souveräns?
Mit dem Argument der Partialinteressen.
Das ist eine so verrückte Behauptung, die sich auch in der Klagebegründung des Bremer Senats immer wieder findet. Die Themen, um die es in Bremen gegangen ist, sind keine Partialinteressen. Und es ist viel leichter, ein paar Abgeordnete für Partialinteressen zu gewinnen oder notfalls auch zur Zustimmung gegen ihre Überzeugung zu bewegen als das in einem öffentlichen, längeren Verfahren gelingen kann. Fragen: K.W.
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