: Der lange Weg in ein geeintes Europa
70 Politiker und Wissenschaftler diskutierten in Warschau die Perspektiven eines wiedervereinigten Europas. Auch Rußland, die Ukraine und sogar Weißrußland wollen mittelfristig mit dabeisein ■ Aus Warschau Gabriele Lesser
Zum „Brainstorming“ waren Präsidenten, Außenminister, Staatssekretäre und Wissenschaftler aus ganz Europa nach Warschau gereist. Weder sollten ein Vertrag unterzeichnet oder eine Erklärung produziert noch etwas Wichtiges beschlossen werden. Dennoch hatte der Staatspräsident Polens und Gastgeber Aleksander Kwasniewski symbolträchtig den „runden Tisch“ aufstellen lassen, an dem einst die Solidarnosc und die Kommunistische Partei Polens den Übergang zur Demokratie beschlossen hatten. Auf dem sechsten „Internationalen Bertelsmann-Forum“ ging es um die Wiedervereinigung des einst durch den Eisernen Vorhang geteilten Ost- und Westeuropas. Zwei Tage lang erörterten rund 70 Staatsmänner und Wissenschaftler Theorie und Praxis der EU-Erweiterung auf bis zu 30 Mitglieder.
Insbesondere der ukrainische Staatspräsident Leonid Kutschma klagte über die Vernachlässigung seines Landes durch die EU. Es gebe keine Strategie der Ukraine gegenüber, keine Perspektive eines EU-Beitritts, keinen Schuldenerlaß wie gegenüber Rußland. Dies gefährde die Stabilität in einem der größten Länder Europas. Als dann der Präsident Moldawiens, Petru Lucinschi, der Vorsitzende der russischen Jabloko-Partei, Grigori Jawlinski, und schließlich auch noch der Außenminister Weißrußlands, Ural Larypow, eine mittelfristige Einbindung ihrer Länder in die EU forderten, ging dem Auditorium auf, daß sich das Gesicht Europas in den nächsten zwanzig bis dreißig Jahren völlig verändern könnte. Denn den Statuten der Europäischen Union gemäß kann jedes Land EU-Mitglied werden, das sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennt und sich auf den Reformweg der Transformation gemacht hat.
Daß eines Tages „Europa“ und die „Europäische Union“ ein und dasselbe sein werden, bezweifelte kaum jemand in der prominent besetzten Runde. Die Vorstellungen über den Zeitrahmen der Beitritte nicht nur der ersten Kandidaten Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn, Estland und Zypern gingen allerdings weit auseinander. Bezeichnenderweise waren es ein Staaatssekretär und ein Vertreter der freien Wirtschaft, die sich ein Duell lieferten über Pro und Contra einer raschen EU-Erweiterung. Während der Bürokrat die Defizite der Beitrittsländer in den schwärzesten Farben malte, erklärte der in Europa tätige Unternehmer rundheraus: „Die EU ist noch nicht erweiterungsfähig.“ Wenn sich das Beitrittsdatum der Kandidaten immer weiter verzögere, sei dies auch ein Zeichen dafür, daß die EU ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht habe.
Sicher sei auch bei den Kandidaten der ersten Runde die Privatisierung der riesigen Staatsbetriebe noch nicht abgeschlossen, der Bergbau laufe weiterhin defizitär, der Lebensstandard liege unter dem der ärmsten EU-Mitglieder Griechenland und Portugal. Doch die Aufholjagd habe längst begonnen.Wenn der positive Trend in den Reformländern anhalte, würden sie schneller als vom Westen erwartet EU-Reife erreichen. Sollte die EU bis dahin ihre Agrar- und Strukturpolitik nicht grundlegend reformiert haben, drohe eine gesamteuropäische Krise.
Zwar wiesen westeuropäische Politiker immer wieder darauf hin, daß „Europa nicht grenzenlos erweitert“ werden könne, doch eine Definition, die beispielsweise die Türkei oder auch die Ukraine jeder Beitrittsperspektive berauben würde, wagte niemand zu formulieren.
Letztlich war es Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister, der den Anstoß zu einem neuen Verständnis Europas gab. Durch die Osterweiterung der EU entsteht in nicht allzu weiter Zukunft ein Europa, das über einen Wirtschaftsverbund weit hinausgehen wird. Ein Europa mit einer Verfassung, einem Präsidenten und einer Regierung. Als Professor Werner Weidenfeld aus München das Schlußwort sprach, hörte keiner mehr so richtig zu. Die rund 70 Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler schienen nur eins zu denken: „An die Arbeit.“
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