: Leben in Lichtblicken
■ Seit den sechziger Jahren stellt Floris Neusüss Fotogramme her. Die Galerie Camera Work zeigt eine Auswahl seiner Schattenwesen
Wenn die Fotokamera angesichts digitaler Medien heute schon fast antiquiert erscheint, so zieht die kameralose Fotografie sie gar nicht erst ins Kalkül. Ein zeitgenössischer Meister dieser archaisch anmutenden Praxis, die Dinge sich selbst auf lichtempfindlichem Papier abzeichnen zu lassen, ist Floris Neusüss. Seine Fotogramme sind alles andere als bescheiden dimensionierte Licht-Spielereien: Die „Nudogramme“ – zwischen 1960 und 1970 entstandene Unikate auf Silbergelatinepapier, die auf Leinen aufgezogen wurden – können wandbildgroß sein, vergleichbar Newtons Frauenakten. Doch statt muskulöser Heroinen zeigt Neusüss den Menschen als helle oder dunkle Silhouette (positiv oder negativ) und als ätherisches Schattenwesen: zugleich ganz nah und doch wie hinter einem Schleier verborgen, mit symbolischen Titeln wie „Der Tod und das Mädchen“ oder „Orpheus und Eurydike“ für eine zweiteilige Positiv-Negativ-Arbeit von 1983.
Der 1937 in Lennep geborene Künstler, der in Wuppertal, München und schließlich bei einem der Pioniere der künstlerischen Fotografie, bei Heinz Hajek-Halke in Berlin, studierte, widmet sich, seitdem er 1966 die Fotografieausbildung an der Kunstakademie Kassel übernommen hat, der experimentellen Lichtbildnerei. Dazu zählt Mehrfachbelichtung – das Prinzip der eher konventionellen „Traumbilder“ aus den sechziger Jahren. Gesichter und Körper sind in Naturbilder eingeblendet und ergeben „Wurzelerscheinung“, „Eifersucht“, „Baumkönigin“ oder „Baumgesicht“. Im Zentrum steht das Fotogramm, von Man Ray und Christian Schad in den zwanziger Jahren in die bildende Kunst eingeführt und vor allem von László Moholy-Nagy systematisch genutzt. Dessen Gegenstandskonstellationen entsprechen die abstrakten „Tellerbilder“ von Neusüss, der sonst meist mit menschlichen Körpern und Pflanzen arbeitet.
Den „Nudogrammen“ stehen die im Treppenaufgang an den Absätzen wie ausruhend postierten „Porträtsilhouetten“ aus den Neunzigern nahe. Sie zeigen im Profil und in natürlicher Größe Personen aus dem Freundeskreis – Fotografen und Fotohistoriker wie F. C. Gundlach, Herbert Molderings oder Klaus Honnef. Obgleich dunkle Schatten, haben sie doch nichts Schemenhaft-Scherenschnittiges an sich: keine harten Konturen oder Kontraste, aber weiche Formen, Grauabstufungen, Körperanmutungen. Vielfach hat Neusüss auch einzelne Pflanzen abgelichtet, etwa Amaryllis, Calla, Gladiole, Distel: zwischen schneidender Realitätsschärfe und der Auflösung in vieldeutige Hell-dunkel-Überschneidungen. Hinzu kommt die Reihe der „Ulos“ (Unidentifiable lying objects), die – schwebend, tänzelnd oder hüpfend – anthropomorph, aber auch als Vogel- oder Insektenwesen interpretiert werden können. Leben aus Lichtblicken. Selten erscheint seine Vergänglichkeit so anmutig und befreiend.
Michael Nungesser ‚/B‘ Floris Neusüss, bis 24. 7., Di. bis Fr. 11–18, Sa. 11–16 Uhr, Camera Work, Kantstraße 149
Die „Porträtsilhouetten“ zeigen Gesichter, aber ohne die harten Kanten des Scherenschnitts
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