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„Ich bin gegen jede Kriecherei“

Wucherndes Material: Kurt Schwitters' Merzbauten waren Zeichen dafür, wie sich Kunst und Leben verbinden lassen. Die meisten Gebäude sind heute zerstört oder werden nicht als Kunstwerke anerkannt – wie ein Haus auf der norwegischen Insel Hjertøy  ■   Von Wolfgang Müller

Ich habe versucht, das Erlebnis „Norwegen“ in die poetischen Worte zu rahmen: Wie klein, wie klein sind Zwerge / auf einem hohen Berge.

Kurt Schwitters 1934

Seine erste Norwegenreise führte den Anna-Blume- und Merzkünstler Kurt Schwitters nach Spitzbergen. Das war 1929. Mit großer Begeisterung hatte die Berliner Dada-Künstlerin Hannah Höch ihrem Künstlerfreund aus Hannover vom Land der Fjorde, Trolle und Lachse erzählt. 1930 reiste Schwitters mit seiner Frau Helma und Sohn Ernst kreuz und quer durch Norwegen und verbrachte in den folgenden zwei Jahren mehrere Monate in Loen, Olden und dem Hochgebirgshotel Djupvasshyttha. Die Aufenthalte finanzierte der Künstler durch den Verkauf naturalistischer Gemälde an Hotels und Touristen.

Auch die kleine Stadt Molde an der westnorwegischen Küste besuchte Schwitters 1932 zum ersten Mal. Vor der Stadt, im Moldefjord, liegt die merkwürdig geformte Insel Hjertøy. Sie ist drei Kilometer lang und nur 200 Meter breit. Für Schwitters, so in einem Brief an einen Freund in Deutschland, war sie „paradiesisch schön“. Steinig und sandig ist der Grund, auf dem Kiefern und Fichten stehen, unter ihnen wachsen Heidelbeeren und Nickendes Leimkraut. Auf diesem Eiland mietete Schwitters ein winziges Steinhaus, vielleicht zwei mal drei Meter Fläche, in den Biographien mal als ehemaliger Schafsstall mit Kartoffellager, mal als 300jährige Schmiede bezeichnet. Hier verbrachte er bis 1939 jährlich mit seiner Frau Helma Schwitters und Sohn Ernst drei bis sechs Monate.

Den ersten großen Merzbau konstruierte der Merzkünstler ab 1933 in seinem Haus in Hannover. Das Wort „Merz“ entstand im Collageverfahren durch die dreifache Trennung des Wortes „Commerzbank“ mittels einer Schere. Permanente Umgestaltung, die nichts zerstört, aber jeweils Früheres aufhebt in neuer Gestalt, das ist Schwitters' Idee seiner Merzkunst. Diese Prozesse finden sich im Merzbau besonders eindringlich wieder: Er wächst nicht nach einem Plan, sondern verarbeitet den Lebensweg seines Schöpfers. Über alte Schichten, alte „Stile“, die Reflexe künstlerischer oder biographischer Beziehungen wuchern neue Gedanken und Formen.

Vermerztes Wohnhaus mit Kunst auf dem Dach

In Hannover wuchs das Gebilde aus kubistisch-dadaistischen Stalaktiten schon bald ins benachbarte Zimmer, verband zwei Zimmer im Dachgeschoß, erweiterte sich allmählich bis zum Dachfirst und endete dort mit einer Plattform, die praktischerweise auch zum Sonnenbaden benutzt werden konnte. Insgesamt acht Räume im Haus waren solcherart „gemerzt“. 1943 wurde das vermerzte Wohnhaus bei einem Bombenangriff zerstört. Auch der zweite Versuch, den er im norwegischen Exil, in Lysaker unternahm, fand ein tragisches Ende. Fast fertiggestellt, mußte Schwitters den Holzbau am Hang seines Hauses beim Einmarsch der Deutschen 1940 liegenlassen. Spielende Kinder setzten ihn 1951 in Brand. Der letzte Versuch, der im englischen Exil begonnene und ebenfalls unvollendete „Merz Barn“ wurde 1965 ausgeweidet. Eine Wand befindet sich heute in einem Flügel der Universität Newcastle.

Tatsächlich aber gibt es einen weiteren Merzbau. Es ist ein winzig kleiner, von der Kunstwelt im allgemeinen als solcher nicht anerkannter: In Schwitters' kleinem Haus auf der norwegischen Insel Hjertøy.

Anläßlich einer geplanten großen Schwitters-Retrospektive im Centre Pompidou reisten vor einiger Zeit Vertreter des Museums aus Paris an, um das Werk in Augenschein zu nehmen. Doch die Sachverständigen befanden, daß hier in diesem Merzbau wohl mehr gelebt wurde, als daß er als Kunstwerk zu bezeichnen sei. Tatsächlich aber weist das winzige Haus auf der Insel zahlreiche Elemente des Hannoveraner Merzbaus auf, Objekte und Formen aus Gips und Holz, die sich zwischen, neben, unter und auf den kargen Flächen von eingebautem Etagenbett, Kleiderschrank und Küchenecke erstrecken. Es handelt sich offensichtlich um eine Symbiose zwischen Kunst und Leben, ganz in Schwitters' Sinn.

Seit Jahrzehnten befinden sich die Bestandteile des Baus in ständiger Auflösung. Niemand zeigte sich an der Sicherung des Hauses interessiert oder hatte eine Idee für eine weitere Verwendung. Der Kunstverein der gegenüberliegenden Kleinstadt Molde ließ die Eingangstür entfernen und bot sie in London zur Auktion an. Niemand ersteigerte die rückseitig mit Collagen versehene Tür – angeblich war zuwenig draufgeklebt –, und so lagert sie heute im Keller des Kunstvereins.

Hinter der nun behelfsmäßig angebrachten Tür führt ein kleiner Flur ins Innere des Hauses. Die Sperrholzwand im Flur besteht aus einer fortlaufenden Collage: Arrangierte Ausrisse und Überschriften aus deutschen und norwegischen Tageszeitungen, Schiffsbillets Oslo – Molde, Zartbitterschokoladenpapier, Ausschnitte aus Dada-Zeitungen, typographische Blätter aus Die Scheune, einer von Käthe Steinitz und Theo van Doesburg 1925 herausgegebenen Zeitung. Gestempelte und an Schwitters adressierte Briefumschläge, dazwischen handschriftliche Bemerkungen, geschliffene Holzstücke mit Durchbohrungen und Gipsformen, die auf Holzstücke montiert sind. All das befindet sich in einem stark lädiertem Zustand.

Noch vor wenigen Jahren rupften spielende Kinder Teile der Collagen und Objekte ab. Wasser tropfte durch das löchrige, morsche Grasdach, es faulte und schimmelte. Die Collagen wellten sich von den Wänden. Im Laufe der Zeit entwickelten sie sich allmählich zu Decollagen, zu typischen Sechziger-Jahre-Kunstwerken. „Wie soll man das restaurieren?“ fragt sich Terje Thingvold. Er ist seit einigen Jahren Direktor des Fischereimuseums, für das zahlreiche Häuser aus allen Teilen Norwegens auf die Insel getragen wurden. Dabei entdeckte er das vergessene Häuschen und mit ihm den Künstler Schwitters. „Seit drei Jahren ist die Hütte überhaupt einigermaßen gesichert.“ Dies sei vor allem der Beharrlichkeit der norwegischen Bildhauerin Ellen Heggdal zu verdanken.

Terje deutet auf eine bleiche Stelle im Holzbalken hinter dem Eingang: „Hier hing vor kurzem noch ein bearbeitetes Holzobjekt. Schwitters nannte es in einem Brief „Der große Holzgeist“. Leider ist auch der Geist spurlos verschwunden, gestohlen wohl von Unbekannten.

„Auf dieser Insel leben nur ein Bauer, seine Frau, ein Hund, einige Kühe, Hühner und ein Radio“, so Schwitters in seinen Aufzeichnungen. Sein Eiland erreichte der Künstler nur mit dem eigenen Ruderboot. Fahrzeit: eine halbe Stunde. Bei stürmigem Wetter konnte es durchaus geschehen, daß die Überfahrt einige Tage nicht möglich war.

Eine Symphonie auf Hunde und Bauernhöfe

Über den Hund des Bauern verfaßte Schwitters ein Gedicht auf norwegisch: Første symfoni på Hjertøya, die Erste Symphonie auf Hjertøy. Der Bauernhof steht noch und auch der große Stall, hinter dem Schwitters' Häuschen liegt. Vor einem Jahr hat der Museumsleiter einen Wegweiser mit der Aufschrift „Schwittershütte“ hierhergepflanzt. Eine kleine Ausstellung mit alten Fotos der Hütte, Collagen und Gemälden wurde in einer kleinen, benachbarten Scheune installiert.

Der Innenraum der Schwittershütte wird durch zwei winzige Fensteröffnungen kärglich erhellt, die Wände sind mit weiß angestrichenem Sperrholz verkleidet. Teilweise liegt es verstreut auf dem mit großen Steinen gepflasterten Boden. Ein quadratischer, ebenfalls mit Sperrholz verkleideter Kubus, vierzig mal vierzig Zentimeter, diente als Tisch. In einer Nische stecken zwei kräftige, polierte Holzstangen, offensichtlich zum Aufhängen der Garderobe. Ein rostiger, krummer Nagel in der Wand und darüber in Schwitters' Handschrift: „Schlüssel zur Dependance“. Linksseitig zwei Schlafabteile wie in einem Zug, an einer Bettkante klebt ein Zeitungsausschnitt, Überschrift: „Adolf Hitler 10. 9. 1936“. Und rechts hinter dem Bett vermerkt Schwitters „Dienstag 5. 5. 32 Vollmond“. Überall angebracht finden sich kleine Zettel und Beschriftungen. „Immer wieder entdecke ich etwas Neues“, bestätigt Terje. Einem Freund schreibt Schwitters 1939: „Das Häuschen besteht einfach gesehen aus zwei Bettkisten mit angehängter Speisekammerküche aus Margarinekästen, Sitz- und Eßgelegenheit, Schränken und Fächern, und alles ist durch Gips miteinander verbunden.“ Diese Verbindung lag ihm besonders am Herzen: „Es ist wichtig, die Innenausstattung zu vollenden in Gips, es glatt und weiß zu polieren, wie mein Atelier in Hannover.“

Doch auch außerhalb des Hauses wurde Schwitters aktiv. Auf der Wiese zwischen Hütte und Bauernhaus errichtete er die mehrere Meter hohe „Skulptur für Molde“, eine konstruktivistisch anmutende weiße Merzskulptur mit festem Stamm, jähem Knick und dünn auslaufenden Enden. Sie bildete den Auftakt für ein ehrgeiziges Projekt: Schwitters hatte sich zum „Fürst von Hjertøy“ ausgerufen und plante eine Weltausstellung auf dem winzigen Eiland. Die niedrige Decke seines Domizils hätte dafür allerdings aufgebrochen werden müssen: „Sie müßte so hoch angelegt werden, daß man an irgendeiner Stelle meines Hauses aufrecht stehen kann. Es ist wohl schlechterdings unmöglich, daß die Herren Diplomaten, die aus Afrika und Australien gereist kommen, um mir ihre Aufwartung zu machen, etwa kriechen müssen, um zu mir, der Keimzelle der Ausstellung, zu gelangen. Ich bin gegen jede Kriecherei.“

Ganz ungehört schien Schwitters' Ausstellungsvorhaben zwar nicht geblieben zu sein: „Heute war ein großer Finanzmann aus Molde und ein Wirtschaftsminister da“, freute sich der Monarch einige Wochen später: „Sie kamen wegen meines Weltausstellungsplans.“ Doch tatsächlich geschah nichts. Die Skulptur für Molde wurde später von dem Bauern auf eine andere Insel verpflanzt und schließlich zerstört. Ein Nachbau, eine Rekonstruktion nach alten Fotos, lagert heute im Depot des Sprengel Museums in Hannover.

„Im Merzstil wird alles wieder zu Material“, hat Kurt Schwitters einmal über seine Kunst gesagt. Und vielleicht ja auch zu Natur: Die Stare, die an der alten, rostrotgestrichenen Scheune neben der Schwittershütte in ihrem Nistkasten brüten, krächzen und quietschen jedenfalls äußerst merkwürdig. Die besonders imitationsbegabten Vögel haben von ihren Vorfahren mit Sicherheit einige Brocken der im Originalklang nur zum kleinen Teil erhaltenen Ursonate vorgeflötet bekommen. Abgelauscht direkt vom Urheber.

Über „Schwitters in Norwegen“ ist 1997 im Klampen Verlag Lüneburg eine Sammlung mit Texten und Materialien (herausgegeben von Klaus Stadtmüller) erschienen, 48 DM.

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