:
Nicht wirklich ■ Von Joachim Schulz
Was ist Sein, was ist nur Schein? Was ist Realität, was Illusion? Seit über 2000 Jahren philosophiert die Menschheit darüber, was denn nun wirklich ist und was nicht. Klüger geworden ist sie nicht.
Um die Verwirrung komplett zu machen, hat sie zur echten Wirklichkeit noch eine künstliche, eine unwirkliche Wirklichkeit geschaffen. Diese nennt sie virtuell. So weit, so wirklich. Oder auch nicht. Jedenfalls hält nach über 2000 Jahren Grübelei darüber, was denn nun wirklich sei und was nicht, das Thema Einzug in die Umgangssprache: „Nicht wirklich“, so heißt nämlich die Floskel des ersten Halbjahrs 1999.
„Nicht wirklich“, antwortete der Außenminister auf die Frage, ob Miloševic denn zu trauen sei. „Nicht wirklich“, antwortet der Schüler auf die Frage, ob er Mathe möge. „Nicht wirklich“, sagt Rikky, Ex-Tic, danach gefragt, ob sie Tac und Toe vermisse.
„Nicht wirklich“ ist nicht nur eine Floskel, sondern die philosophische Formel, die auf die Doppelbödigkeit der Realität verweist. Wer „nicht wirklich“ sagt, hat die tiefere Wahrheit erkannt, die unter der Oberfläche des Scheins schlummert. Er weiß, daß zwischen dem, was jemand sagt, und dem, was er wirklich meint, oft ein himmelweiter Unterschied besteht. Und er hat diesen Unterschied erkannt.
Wunderbar, möchte man sagen, damit wird allen Quacksalbern und Roßtäuschern die Maske der Heuchelei vom Gesicht gerissen. Doch leider wird die Wendung „nicht wirklich“ nicht wirklich dazu benutzt, um die Wirklichkeit ans Licht zu zerren. Dann nämlich müßte die Antwort auf Fragen wie „Ist das Gemüse wirklich frisch?“ an den Ober, „Ist das wirklich ein Garagenwagen?“ an den Autohändler oder „Warst du mir wirklich treu?“ und „Hast du auch hinterm Herd gewischt?“ an den Ehepartner stets lauten: „nicht wirklich“. Und sämtliche Politiker müßten auf die Frage, ob es ihnen um das Wohl der Wähler, der Arbeitslosen, der Familien, der Jugend, der Frauen oder der Allgemeinheit ginge, antworten: „nicht wirklich.“
Leider aber ist der Mensch ein Filou, und so benutzt er die Formel „nicht wirklich“ nicht wirklich, um Dinge ans Licht zu bringen, sondern um sie zu vernebeln. Er täuscht philosophische Tiefe seiner Gedanken vor und weigert sich doch nur, Farbe zu bekennen. Der Grüne versicherte, er sei „nicht wirklich“ für die Luftangriffe der Nato gewesen, aber auch „nicht wirklich“ dagegen. Der Ehemann beteuert, er habe die Sekretärin „nicht wirklich“ geküßt, der Fußballer hat dem Gegner „nicht wirklich“ das Bein brechen wollen, und der Lehrer will dem Schüler mit der Fünf „nicht wirklich“ schaden.
So funktioniert die Floskel stets im Sinne des Anwenders: Er raunt und munkelt und unkt, tut mit dem „nicht wirklich“ so, also steckten hinter dem, was er sagt und tut, tiefere Gedanken und redet sich in Wirklichkeit doch nur billig heraus. „Nicht wirklich“ ist also nicht wirklich ein Gewinn an philosophischer Erkenntnis, sondern eine weitere Masche von Leuten, die viel reden und nicht wirklich etwas zu sagen haben.
Sie fragen sich nun, ob dieser tiefschürfende Beitrag ernstgemeint ist. Die Antwort lautet – nein, nicht „nicht wirklich“, sondern: jawoll!
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen