: Die Dekade der Gehirnforschung
Die 1990 ausgerufene Dekade des Gehirns ließ um den menschlichen Denkapparat einen riesigen Forschungszweig entstehen. Immer tiefer dringen die Hirnforscher in das biologische Universum vor ■ Von Claudia Borchard-Tuch
Ratten und Mäuse können es bereits. Doch für jeden Biologiestudenten steht fest, daß die Produktion neuer Nervenzellen für Menschen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Eine tragische Erkenntnis – sie würde bedeuten, daß die Zerstörung von Nervenzellen für immer unheilbar bliebe. Jetzt ist dieses Dogma der Hoffnungslosigkeit gefallen: In einer Hippocampus genannten Hirnregion, die für Lernen und Erinnern eine wichtige Rolle spielt, wiesen Forscher die Entstehung neuer Nervenzellen bis ins hohe Alter nach. Die „Dekade des Gehirns“, die US-Präsident Bush im Juli 1990 ausrief, scheint Träume in Erfüllung gehen zu lassen. Werden unheilbare Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson bald besiegt sein, indem man anstelle der untergegangenen Nervenzellen neue heranreifen läßt?
Im letzten Jahrzehnt haben die Wissenschaftler unzählige neuartige Reparaturen am menschlichen Gehirn entwickelt. Sie setzen dabei auf drei Strategien – auf Ersatznervenzellen, auf maßgeschneiderte Medikamente und auf technische Hirnprothesen, die „Brain-Chips“. Während die Hippocampus-Forscher die Nervenneubildung lediglich nachwiesen, gelang dem Schweizer Neurowissenschaftler Martin Schwab und seinem Team sogar, sie in Gang zu setzen: Seine ehemals gelähmte Ratte auf der Titelseite des Fachblattes Nature Neuroscience klettert wieder an einem dicken Seil nach oben. Im Mittelpunkt der Schwabschen Untersuchungen steht ein Hemmstoff, der das Weiterwachsen von Nervenzellen normalerweise verhindert. Der Wissenschaftler blockierte den Hemmstoff mit Antikörpern und setzte ihn so außer Gefecht. Und dann geschieht das Unfaßbare: Die durchtrennten Nervenfasern wachsen zusammen, die gelähmten Ratten können wieder laufen und klettern.
Die Heilung Querschnittsgelähmter scheint in greifbare Nähe zu rücken. Doch Schwab äußert sich vorsichtig. „Wir sehen erst die Spitze des Eisbergs, aber wir haben zumindest gemerkt, daß da ein Eisberg ist. Ein einziger unvorhersehbarer Befund kann unser ganzes Konzept zunichte machen.“ Die Zurückhaltung ist verständlich, zu viele Probleme sind noch ungeklärt. So lockt die Durchtrennung von Nervenfasern zahlreiche Abwehrzellen an, die offensichtlich weiter Gewebe zerstören. Die Forscher glauben den Gewebsuntergang stoppen zu können, wenn sie seinen Verlauf kennen. Zur Zeit hoffen Querschnittsgelähmte jedoch noch vergeblich auf Heilung. Es ist zweifelhaft, daß in Erfüllung geht, was der querschnittsgelähmte amerikanische Schauspieler Christopher Reeve („Superman“) verkündete: „An meinem fünfzigsten Geburtstag in gut drei Jahren werde ich wieder laufen können.“
Auch andere Wissenschaftler entdeckten Stoffe, die Nervenzellen zum Wachsen bringen. Hirnforschern der Emory Universität in Atlanta gelang es bereits, auf diese Weise erwachsenen Ratten zu mehr Gehirnnervenzellen zu verhelfen. Nachdem die Wissenschaftler den Nervenwachstumsfaktor BDNF mit einer Minipumpe in die Hohlräume der Rattengehirne gespritzt hatten, konnten sie bereits nach vier Tagen einen deutlichen Zuwachs an Nervenzellen beobachten. Möglicherweise können Alzheimer- oder Parkinson-Patienten von dem Wirkstoff profitieren, wenn er bei ihnen den Verlust untergegangenen Nervengewebes ausgleicht oder sogar das Absterben von Zellen verhindert. Ein anderes Protein, genannt OP-1, versieht Nerven in der Nähe zerstörter Hirnzellen mit neuen Leitungen. „Es sieht zur Zeit sehr ermutigend aus“, freut sich Marc Charette, Sprecher des Herstellerunternehmens. „Zwar sterben die zerstörten Hirnzellen, aber das Protein führt rasch zu neuen Nervenfasern rundherum. Schlaganfallpatienten werden sich viel schneller als bisher erholen können.“
Wenn sich eigene Nervenzellen nicht schnell genug bilden, können fremde übertragen werden. Mediziner in aller Welt behandeln Parkinson-Patienten, indem sie embryonale Hirnzellen in das kranke Gehirngebiet verpflanzen. Seit der Premiere 1987 in Lund sind über 200 solche Transplantationen dokumentiert. Die Parkinsonsche Krankheit beruht auf dem Absterben von Gehirnzellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren. Er vermittelt die Verständigung zwischen verschiedenen Teilen des Gehirns. In umfangreichen Tierversuchen konnten Wissenschaftler in Lund, aber auch deutsche Forscher an der Medizinischen Hochschule Hannover nachweisen, daß die implantierten Embryonalzellen im Empfängergehirn Dopamin produzieren und zu einem geringen Prozentsatz auch im Gewebe festwachsen. Dies konnte auch eine vor kurzem von den US-Medizinern Curt Freed (Colorado-Universität Denver) und Stanley Fahn (Columbia-Presbyterian Medical Center New York) durchgeführte Studie nachweisen. Allerdings kam sie zu Ergebnissen, für die es bis heute keine Erklärung gibt. Einigen Patienten ging es nach der Operation schlechter. Obwohl die Zellen auch bei älteren Patienten anwuchsen, besserten sich deren Symptome nicht. „Im Moment würden wir“, so Fahn „mit dieser Methode nur Patienten mit schwerem Krankheitsbild behandeln, die keine Alternativen haben.“
In Deutschland hat sich die Bundesärztekammer gegen die Verpflanzung embryonaler Hirnzellen ausgesprochen. Gegner der Methode befürchten, daß ein hoher Bedarf an embryonalem Gewebe dazu führen könnte, daß Frauen in ihrer Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch beeinflußt würden. Diese Gefahr sieht auch Ole Isacson vom McLean-Hospital in Belmont bei Cambridge, der auf Dopamin produzierende Schweinezellen setzt, weil sie gut verfügbar sind.
Die Behandlung mit neuartigen Medikamenten nutzt das enorm gewachsene Wissen über das chemische Kommunikationsnetz im menschlichen Kopf, um gezielt in die „Gespräche“ von Nervenzellen einzugreifen. Standen zu Beginn der Dekade des Gehirns so gut wie keine wirksamen Medikamente gegen neurologische Erkrankungen zur Verfügung, kommen nun alljährlich Dutzende von Präparaten auf den Markt. In Deutschland stehen drei unterschiedlich genetisch hergestellte Interferone zur Behandlung der Multiplen Sklerose bereit. Zudem gibt es das synthetisch hergestellte Copolymer-1. Bei der Multiplen Sklerose dringen aggressive Immunzellen in das Gehirn ein und vernichten die schützenden Hüllen der Nervenzellfortsätze. Geeignete Medikamente könnten die Zerstörung zum Stillstand bringen. Einer der führenden MS-Forscher, Gordon Francis vom Montreal Neurological Institute, dämpft jedoch Hoffnungen: „Der Nutzen aller heute verfügbaren Arzneien ist begrenzt – das Fortschreiten der Krankheit wird lediglich verlangsamt, bestehende Behinderungen können nicht rückgängig gemacht werden.“ Daher hat eine fieberhafte Suche nach Alternativen begonnen. Inzwischen testen Forscher in der ganzen Welt fast 30 neue Medikamente und Heilverfahren, die das Nervenleiden möglicherweise aufhalten können.
Die Koppelung von krankem Gehirn und Neuroprothese ist bereits machbar. Gehörlose können mit einer Innenohrprothese wieder hören. Weltweit ist bereits mehrtausendfach ein Implantat für eine defekte Ohrschnecke eingepflanzt worden, das deren Funktion elektronisch gesteuert übernimmt. Noch weiter geht der HNO-Spezialist Roland Laszig von der Freiburger Universitäts-Hals-Nasen-Ohren-Klinik, der Menschen, deren Hörnerven nicht mehr funktionieren, eine elektronische Hirnstammprothese als Hightech-Hörhilfe einsetzt. Laszig legt ein mit Elektroden bestücktes Silikonplättchen auf den Hörkern im Hirnstamm. Der Hörkern bildet die erste wichtige Umschaltstation für akustische Signale im Hirn. In den Schädelknochen bauen die Chirurgen dann einen Stimulator ein, der über ein Kabel die Elektroden steuert – gemäß den Impulsen, die ein zigarettenschachtelgroßer Sprachprozessor von außen drahtlos überträgt.
Eine Augenprothese könnte Millionen Menschen vor der Erblindung bewahren. Sie leiden an unaufhaltsam fortschreitenden Augenerkrankungen, denen eines gemeinsam ist: das Absterben von Zellen in der Netzhaut. In Zukunft soll sich ändern, daß eine Heilung bislang nicht möglich ist. Weltweit arbeiten vier Forscherteams daran, den Ausfall der Netzhautzellen durch eine implantierbare Sehprothese zu ersetzen. Der Blinde trägt eine spezielle Brille mit Fotosensoren, die das „Gesehene“ in elektrische Impulse auflöst und diese zu implantierten Mikrokontakten auf der Netzhaut sendet.
Ungleich schneller als die Entwicklung von Ersatzchips für ausgefallene Sinnesorgane kommt die der elektronischen Gehmaschinen für Querschnittsgelähmte voran – sie erfordert einen geringeren technischen Aufwand. In einem Labor der Surrey Universität im englischen Guildford arbeiten David Ewings und Danny Banks an solch einem Projekt. „Um einzelne Muskeln ansteuern zu können, entwickeln wir Implantate, die den Muskel gezielt durch elektrische Impulse stimulieren“, erklärt Ewings. Geplant sind sowohl Neuroprothesen, die direkt ins Rükkenmark eingepflanzt werden, als auch Implantate in Muskelnähe.
Manche Neurotechnologen wagen sich sogar in den Schädel vor. Mit Hirnelektroden bringen Ärzte die Zuckungen Parkinson-Kranker unter Kontrolle. Meist sind es ältere Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Parkinson-Erkrankung, denen die Tiefhirnstimulation hilft. Bis zu 80 Prozent aller Patienten, bei denen die Medikamente sechs bis acht Jahre nach Beginn der Erkrankung ihre Wirkung verlieren, könnten von diesem Eingriff profitieren. Durch ein kleines Bohrloch in der Schädeldecke schieben die Ärzte eine Elektrode in eines der Nervenzentren, deren Schädigung das Zittern verursacht. Ein Stimulator von der Größe eines Feuerzeugs wird unterhalb des Schlüsselbeins implantiert und mit der Elektrode im Kopf verbunden. Mit einem Magneten schaltet der Patient das Gerät ein, sobald das Zittern beginnt.
Die Dekade des Gehirns ließ um den menschlichen Denkapparat einen riesigen Forschungszweig entstehen. Mit immer raffinierteren Methoden dringen die Hirnforscher in das biologische Universum vor.
Millionenteure Scan-Geräte mit geheimnisvollen Namen wie NMR oder PET zeigen das Gehirn in Aktion. Ohne chirurgischen Eingriff können Mediziner jetzt das Denkorgan in jeder beliebigen Tiefe bei seiner Arbeit beobachten – beim Denken, Sprechen, Fühlen und Handeln.
Dank einer Technik, für deren Entwicklung Bert Sakman und Erwin Neber 1991 den Nobelpreis für Medizin erhielten, ist es sogar möglich, den Stromfluß durch einzelne Ionenkanäle in der Hülle von Nervenzellen zu beobachten. Gentechnologische Methoden verändern gezielt die Struktur der Ionenkanal-Moleküle und stellen die Folgen solcher Mutationen fest. So weiß man mittlerweile, daß Epilepsie, Migräne und Taubheit, verschiedene Formen von Lähmungen und Bewegungsstörungen durch krankhaft veränderte Ionenkanäle verursacht werden können. Inzwischen kennt man Erbanlagen, die bei der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung, des Morbus Parkinson und bei etlichen anderen Erkrankungen beteiligt sind. Wie der Hirnforscher Floyd Bloom feststellte, kannte man Ende der achtziger Jahre die meisten Hirnerkrankungen lediglich von den Symptomen her. Inzwischen weiß man, was auf der Ebene der Moleküle geschieht.
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