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Unordnung am Ostbahnhof

Der Sommer ist komplett: Im elften Jahr seines Bestehens hat sich das Heimatklänge-Festival einer drastischen Verjüngungskur unterzogen und setzt mit seinem Programm „Rund um die Karibik“ einen Gegenakzent zum augenblicklichen Buena-Vista-Boom  ■   Von Daniel Bax

Die „Heimatklänge“-Macher wissen, was Journalisten mögen. Mit einer Bootspartie über die Spree stimmte sie am Vorabend des sechswöchigen Sommerschwofs die versammelte Musikpresse der Stadt auf das anstehende Festivalprogramm ein. Von der Anlegestelle in Moabit ging es, mit einer mexikanischen Mariachi-Kapelle an Bord, ans unwegbare Ufer in Friedrichshain, von dort aus weiter zu Fuß zum neuen Gelände am Ostbahnhof, wo das Tempodrom-Zelt im Hof des stillgelegten Postbahnhofs sein vorübergehendes Domizil bezogen hat.

Ein Presseausflug zu Wasser und zu Lande, das war ganz im Geiste des Berliner Forschungsreisenden Alexander von Humboldt, dessen ausgedehnte Expeditionen nach Lateinamerika das Motto für das diesjährige Heimatklänge-Spektakel vorgeben: „Rund um die Karibik“.

Mit trockenen Taco-Chips und Caipirinhas wurden die Pressevertreter bei Laune gehalten, um Heimatklänge-Kapitän Borkowsky bei der Vorstellung der einzelnen Bands zu folgen. Soviel Überzeugungsarbeit wäre gar nicht nötig gewesen, um sich deren Goodwill zu sichern. Denn die Heimatklänge sind nicht nur längst im Stadtleben so fest etabliert, daß ihnen auch der Umzug an einen weniger idyllischen Ort wie dem Tiergarten wenig anhaben dürfte. Die diesjährigen Gäste scheinen auch geeignet, der altgedienten Weltmusik-Veranstaltung ganz neue Fankreise zu erschließen, vielleicht sogar den einen oder anderen Hipster aus dem benachbarten „Maria“-Club zu locken.

Denn für den Start in die neue Dekade haben sich die Heimatklänge einer drastischen Verjüngungskur unterworfen. Gerade mal 17 Jahre alt ist mit der kolumbianischen Sängerin Auriana Lucia die jüngste Interpretin, die im August erwartet wird, und auch die meisten übrigen Musiker sind wenig älter.

Obwohl die Heimatklänge-Crew einmal mehr die karibische Küste abgegrast hat, setzt sie mit ihrer Auswahl einen bewußten Gegenakzent zum derzeitigen Buena-Vista-Boom. Denn die allgegenwärtige Begeisterung für die geriatrische Abteilung der kubanischen Musik hat wohl mehr mit der Vergreisung des hiesigen Publikums zu tun als mit dem aktuellen Lebensgefühl in der Region. Lateinamerika ist ein junger Kontinent, und die Jugend stellt die gesellschaftliche Mehrheit. Um dem Rechnung zu tragen, haben sich die Handlungsreisenden in Sachen Heimatklänge diesmal weniger als Musik-Archäologen denn als Trendscouts betätigt und ihre Entdeckungen zur weltmusikalischen Wundertüte verschnürt.

Auf den Tag genau zweihundert Jahre nachdem Alexander von Humboldt in See stach, starten die Heimatklänge mit Desorden Público aus Venezuela. Der Name steht für „öffentliche Unordnung“, und mit ihrem frischen, politisch bewußten Latin Ska-Sound, der an die französische Ethno-Punkband Mano Negra erinnert, verspricht die achtköpfige Crew, einigen Aufruhr auch am Ostbahnhof zu provozieren. Zu Hause in Caracas bringen sie schon einmal mehr als 100. 000 Menschen auf die Beine, ganz so viele passen nicht ins neue Tempodrom. Da Desorden Público als einzige Band zum Auftakt nur an drei Abenden auftreten, sollte man sich also nicht zu viel Zeit lassen, will man sie nicht verpassen.

In der folgenden Woche geht es dann im regelmäßigen Fünf-Tage-Takt weiter, zunächst mit dem kubanischen House-Projekt Sin Palabras und deren rappenden Kollegen von Proyecto F, die Conga-Rhythmen um elektronische Dimensionen erweitern und traditionellen Yoruba-Gesängen einen Rap-Kommentar beifügen. Anschließend ergreifen Los de Abajo das Wort, eine mexikanische Salsa-Combo mit aggressiver Punk-Haltung.

Etwas konventioneller und weniger urban, aber nicht weniger spannend fällt die zweite Heimatklänge-Hälfte aus: Asere aus Kuba beweisen, das Jugend und Traditionsbewußtsein auch ganz gut zusammengehen können, und treten gemeinsam mit der kolumbianischen Cumbia-Königin Totó la Momposina an. Ebenfalls aus Kolumbien stammt die erst 17jährige Auriana Lucia. Sie ist Nachwuchsstar des Vallenato, einer akkordeongetriebenen Volksmusik,die sich auf Dorffesten und bei Drogenbaronen großer Beliebtheit erfreut – leichte Kost für ein sorgenfreies Tanzvergnügen auf jeden Fall.

Zum Abschluß beim Heimatklänge-Ausklang wird dann doch noch den Alten die Ehre erwiesen. Für den Feingeist gibt es süßliche Son-Klänge zu hören, allerdings nicht aus Kuba, sondern aus Mexiko. Mit fünf Mark sind Sie dabei.

Desorden Público (Caracas/Venezuela) Fr und Sa ab 21.30 Uhr, So 16 Uhr im Tempodrom am Ostbahnhof, Straße der Pariser Kommune 8 – 10, Friedrichshain

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