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„Charakter: hart sein, aber Köpfchen behalten“

Eine kulturelle oder politische Identität gibt es nicht, die Gang von nebenan ist der Feind. Sie sind stolz auf ihr Viertel und bleiben doch anonym: Hamburger Jugendgangs  ■ Von Peter Brandhorst

Manchmal, zweifelt Ahmet,

der 17jährige, kommen schon blöde Gedanken: Hat sie etwa Schluß gemacht, weil sie denkt, man sei dreckig oder ein schlechter Mensch? Mo, sein Freund, sagt dann, daraus dürfe man sich nichts machen. Mädchen forderten eh den ganzen Tag Zeit nur für sich. „Die haben echt Ansprüche!“, stöhnt jetzt auch Ahmet. Und letzte Unsicherheiten werden zer- redet von all den anderen: Mädchen, wissen die Jungs schon lange, gibt es mehr als nur eines, ihre Gang aber ist einmalig.

In der Gruppe, schwärmt Ahmet, „bin ich voll wichtig und kann sprechen über meinen Ärger. Das hilft ablenken.“ Zu Hause verlangen die Eltern, daß er funktioniert. Streß mit der Liebe, Streit zwischen den Geschlechtern – wie so vieles ist das für keinen von ihnen daheim ein Thema. Ihre Probleme bereden die Jungs vor den Häusern; das wirkliche Zuhause ist ihre Gang. Eine von etwa zwanzig, wie sie sagen, die es allein in der Hochhaussiedlung Mümmelmannsberg gibt. Einige ziehen zu viert oder fünft um die Blöcke, andere sind zehn oder zwanzig Köpfe stark. Manche Gruppen existieren nur für ein paar Wochen. „Wenn wir wollen“, prahlt Erfi, ein 17jähriger Mümmelmannsberger, „kriegen wir hundert Mann zusammen!“ Lauter Jungs zwischen 14 und 20, die sich zusammentun gegen Langeweile.

Hamburgs Gangs bewegen sich vor allem in den klassischen Arbeiterstadtteilen, in Vierteln mit einem hohen Anteil an sozial schwacher und ausländischer Bevölkerung. Wer will, kann sie nicht übersehen. „Mümmelmannsberg“, sagt Mo ganz stolz, „ist mein Viertel. Und das ist Ghetto.“

Die Gruppen sind keine neue

Erscheinung. Den Rockern der Siebziger folgten die Gangs der Achtziger. Die St. Pauli-„Streetboys“, von denen Einzelne umstiegen in die „Nutella“-Zuhälterbande, waren die wohl bekannteste. Andere nannten sich „Warriors“ oder „Black Panters“, „Champs“ oder „Nameless“. Namenlos war plötzlich keiner mehr, und Sprachlosigkeit wollte man hinter sich lassen. Das Feindbild der damals quer durch alle Nationalitäten gemischten Gangs saß rechts. Aus den Jugendeinrichtungen heraus wurde Abwehr organisiert gegen neonazistische Angriffe auf die eigene kulturelle Identität. Damit einher ging das Bestreben, den Gegner nicht automatisch auch in der konkurrierenden Gruppe zu sehen. Und dort, wo sich Jugendarbeit mit der Szene befaßte, bestand wenig Gefahr, den Kontakt zu ihr zu verlieren.

Heute ist der in großen Teilen abgerissen. Um Häuser der Jugend schlagen die Gangs große Bögen. Das, sagt Mo, sei „nur was für Zehnjährige, Kinderkram“. Ahmet mosert, im Jugendkeller gäb's nicht mal einen Fernseher. Er wünscht sich eine Schwimmhalle und Mo, na klar, einen Platz, „wo Mädchen hinkommen, aber nicht die Schlampen“.

Ihr täglicher Überlebensstreß findet weitgehend unbeobachtet statt. Man trifft sich meist zufällig und unvorbereitet. Wer Zeit totschlagen muß, schaut nach, wer mit ähnlichem beschäftigt ist. Schule findet nur am Rande statt. Etliche haben sie hinter sich gelassen – mit oder ohne Hauptschulabschluß; Arbeit und Ausbildung hat kaum jemand.

Seit einem Jahr, resigniert Ahmet, suche er nach Jobs. Sein Traum ist es, Tischler zu lernen. Doch „zu den Bewerbungen fahr' ich nicht mehr hin. Die nehmen mich eh nicht für voll“. Das ist seine Lehre. Ihm und den anderen bleiben die spontanen „Powergeschichten“, die das Leben spannend halten. „Was wir dann machen“, umschreibt Erfi, „sehen die Bullen nicht so gerne“.

„Uns werden eigentlich nur noch die Straftaten gemeldet“, erkennt Iris Hollmann, im Jugendamt des Bezirks Mitte als „Abteilungsleiterin Jugendsozialarbeit“ zuständig für Mümmelmannsberg und Billstedt-Horn. „Die Gruppen selbst bekommen wir nicht mehr mit.“ Es gibt reichlich Bedarf, weiß sie, sich um die Jugendlichen zu kümmern, „aber die sind nicht ohne weiteres mit Freizeitangeboten zu erreichen. Die bestehen auf ihre eigenen Regeln“. Als sie noch jünger waren, erklärt Mo eine wichtige, „wurden wir nur verarscht. Jetzt wissen wir, daß wir selber verarschen müssen. Dann geht alles besser“.

Die heutigen Gangs sind

nicht vergleichbar mit denen der Achtziger. Eine gemeinsame kulturelle oder politische Identität gibt es nicht mehr. Freundschaften existieren nur in der eigenen Gruppe, die Gang von nebenan ist oft schon der Feind. Gemeinsame Kleidung oder Gruppennamen sind nicht mehr Mode. Man ist stolz auf sein Viertel und bleibt für andere doch anonym.

Wo sich Jugendliche organisieren, geschieht dies zunehmend vor dem Hintergrund ihrer ethnischen Abstammung. Türken können nur noch mit Türken, Afghanen vielleicht noch mit Iranern, und Russen oder Polen bleiben sowieso unter sich. Deutsche Jugendliche treten in Stadtteilen wie Mümmelmannsberg kaum noch in Erscheinung. „Mit Kartoffeln“, sagt Erfi, „wollen wir nichts zu tun haben. Wir waren schon immer die Kanacker. Das bleiben wir auch jetzt.“

Wer sich so abgrenzt, der hat schmerzhafte Erfahrungen sammeln müssen – wie die russischen und polnischen Aussiedlerkinder, die Anfang der Neunziger nach Hamburg kamen. „Die wollten nicht hierher“, sagt Ernie Hellmann, Mitarbeiter der Straßensozialarbeit Rahlstedt, „und wurden regelrecht verschleppt“ – in bester Absicht von den eigenen Eltern. Jetzt leben diese Kids, oftmals der deutschen Sprache nur unzureichend mächtig, abgeschottet und frustriert in ihren Gruppen und verstehen nicht, was sie sehen. Eine russische Gang erpreßt dann schnell mal eine andere. Schutzgelder werden verlangt oder auch die Erledigung strafbarer Handlungen. Wer sich widersetzt, fängt Schläge.

Lauter gesellschaftliche Verlierer seien das, sagt ein Polizeibeamter, der ungenannt bleiben möchte. Und: „Die Russen sind ein Problem, das uns noch sehr beschäftigen wird.“ In Bergedorf und Neu-Allermöhe, zwei Bereichen mit vielen deutsch-russischen Aussiedlerkindern und hoher Gewaltbereitschaft, ist die Polizei dazu übergegangen, Flugblätter unter den Jugendlichen zu verteilen mit der Aufforderung, sich im Konfliktfall an sie zu wenden. Der Erfolg ist gleich Null. Auch der Polizei trauen sie, natürlich, nicht ein bißchen.

Gangs haben viele Gesichter, eines ist die Gewalt. Lange Zeit stand das „Abziehen“ von beispielsweise Jacken ganz oben auf der Tagesordnung. Das scheint zumindest bei den Älteren nachgelassen zu haben, denn sie lernen dazu. „Wir können jetzt schon in den Knast kommen“, weiß ein Mümmelmannsberger, „aber nur, wenn es sich gelohnt hat“. So existieren sie von Diebstählen und Dealereien. Abnehmer für heiße Ware finden sich problemlos. Nicht selten auch in jenen Kreisen, die nachher an ihren Stammtischen Klage führen über die Brutalisierung der Jugend.

Körperverletzung, Bedrohung, Freiheitsberaubung, schwerer Raub, räuberische Erpressung, Bildung bewaffneter Gruppen, Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Waffengesetz – die Palette der Straftaten ist lang. Beim Polizeidezernat „Jugendliche Gewalttäter“ sind rund 900 Heranwachsende zwischen 14 und 25 Jahren als „potentiell gewaltbereit“ vermerkt. Liste geführt wird dort auch über die Waffen: Messer vor allem, doch ebenso Gaspistolen, Totschläger, Zaunlatten, Stuhlbeine und Eisenstangen. „Man braucht das!“, rufen die Kids – für irgendeinen Fall der Fälle. Die Waffen werden irgendwo deponiert, und die Jungs mit der meisten Angst verfügen oft über die größte Ausstattung. Vor allem für türkische Jugendliche gilt: Die beste Waffe bleibt der Körper. Kampfsport hilft, fit zu sein für Beulereien mit anderen Gruppen.

Konflikte zwischen Gangs entstehen oft auf Partys. „Da sind die Mädels!“, fiebert Erfi vor jedem Wochenende, und ungefähr alle sechs oder sieben Tage werden irgendwo in Hamburg Waffendepots geleert, um Kräfte zu messen. Der hat mein Mädchen beleidigt, heißt es dann, vielleicht – schlimmer noch – auch mich selbst. Oder: Sie hat sich mit jemand anderem eingelassen. „Mädchen“, mault Mo, „sind sowieso wie Geier. Beim ersten Ausgehen zahlen sie selbst ihren Kram. Dann wollen sie eingeladen werden, und beim dritten Mal schleppen sie noch ihre Freundin mit.“

Ehre ist den Kids sehr wichtig. Wer darin verletzt wird, muß sich wehren. „Sonst wird dein Ruf ja schlecht, das will man doch vermeiden“, erklärt Ahmet. Mo fügt an: „Ich will, daß alle wissen: Ich bin auch nur ein Mensch.“ Nach Schlägereien, bekennt ein anderer, fühle man oft Reue: „Ich hab den ja in seiner Würde geknickt.“ Auch der, will er sagen, bleibt Mensch. So wie Ahmet einer ist, wenn er in Rage gerät beim Anblick von achtlos auf die Straße geworfenem Essen. Das packt er dann vor eine Hausecke, „für Vögel oder Penner. Es gibt Leute, die hungern“.

Manche der Jugendlichen werden irgendwann zu Tätern, Opfer sind sie alle schon lange. Fast jeder von ihnen mußte zu Hause Gewalt und auch Mißbrauch erleiden. Man müsse von einer „Massenerscheinung“ sprechen, sagt Jörg Haslbeck, der in Mümmelmannsberg das musikpädagogische Projekt „Laßt 1000 Steine rollen“ organisiert. Vergangenen Herbst hat Haslbeck mit 15- bis 18jährigen SchülerInnen der Gesamtschule Mümmelmannsberg ein Seminar zum Thema veranstaltet. Das Ausmaß der Gewalterfahrungen habe er sich bis dahin nicht vorstellen können. Wer so mißhandelt wird, für den bleibt Gewalt etwas ganz normales.

Ein bißchen Prügel – so stellt sich Ahmet vor, wie er später mit Frau und Kindern leben möchte – sei bestimmt nicht schlimm, damit die Kleinen etwas lernten. Nicht, „daß sie sich quälen und die Seele aus dem Leib schreien“. Später hebt der 17jährige sein Hemd und zeigt einen breiten Streifen vernarbter Striemen, quer über den Rücken. Bis zu seinem 13. Lebensjahr ist er von seinem Vater verprügelt worden. Oft mußte Ahmet draußen dünne Stöcke schneiden.

„Das Elend hinter den Türen sieht man nicht“, hat auch Waltraud Liebegut erfahren, die 13 Jahre lang Streetworkerin in der Hochhaussiedlung Lüdersring in Lurup war. In etwa eintausend Wohnanlagen leben dort, wie es in der zuständigen SAGA-Geschäftsstelle formuliert wird, viele „Bezieher von Transferleistungen“: Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeldempfänger, auch Rentner. In ihren Wohnungen haben sie vornehmlich mit sich selbst zu tun, und bleiben mit allem doch heillos überfordert.

Hilfen werden von den Familien kaum in Anspruch genommen – man müßte sich ja sonst zu seinen Problemen bekennen. Die neu geschaffene Möglichkeit beispielsweise, Schulverweise zuvor auf Klassenkonferenzen mit gewählten Elternvertretern zu diskutieren, wird an der Mümmelmannsberger Gesamtschule von zwei Dritteln der Eltern abgelehnt. Ein Vergleich: An der Jahn-Gesamtschule in Eimsbüttel sind mehr als zwei Drittel dafür.

So leben die Kids täglich neu den Spagat zwischen drinnen und draußen. In ihren Familien geben sie sich wie Lämmer. „Da hat man Respekt vor seinem Vater“, weiß Erfi. „Verläßt du die Wohnung, bist du der Gangster.“ Zu Hause alleingelassen, in der Schule nicht ernstgenommen und auf dem Arbeitsmarkt kaum zu gebrauchen – sie erlernen das Leben und wissen, daß sie nicht mehr aufgeben dürfen. Immer nach oben müsse es jetzt gehen, sagt Mo. Das, fügt einer an, erfordere „Charakter: hart sein, aber Köpfchen behalten“.

Und Ahmet? Auch der hofft, sich noch eine Chance zu bewahren. Im Augenblick bewegt ihn schier Gewaltiges: „Ich verstehe manchmal einfach nicht, wie das Leben funktioniert. Das sind Fragen, die ich noch beantworten muß.“

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