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Flucht aus der Metropole

■ Fake, Hype oder Realität? Eine Diskussionsveranstaltung in der FU beschäftigte sich mit dem Berlin-Buch-Boom der Neunziger

Vor dem Eingang der Rostlaube wartete schon ein großer Wüstenjeep. Die Türen wurden geöffnet, und man konnte den Kritiker, den Lektor, die Dame von der Literaturzeitschrift und die drei Dichter darin verschwinden sehen. Auf dem Weg in eine andere Welt, raus aus der Stadt, in der man als Literaturschaffender nicht leben kann, ohne den Forderungen nach dem Berlin-Roman der Neunziger in irgendeiner Weise ausgesetzt zu sein.

„Unsäglich“ hatte Matthias Gatza auf der Podiumsdiskussion zum Thema „Berliner Literatur zehn Jahre nach dem Mauerfall“ den Namen seines Arbeitgebers genannt: „Berlin-Verlag“! Dieser Name übe eine geradezu magische Anziehungskraft auf all die Möchtegernschreiber aus, die auf der Berlin-Buch-Boom-Welle locker mitsurfen wollten. Zehn Berlin-Buch-Manuskripte bekomme er pro Tag auf den Tisch. Kein einziges Buch, in dem Berlin auch nur eine Rolle spielt, habe er bislang veröffentlicht. Seine Autoren (fast alle leben in Berlin) schreiben über den Jemen, New York, Delhi, oder die Provinz.

Ja, die Provinz, pflichtet ihm der Literaturkritiker Jörg Magenau bei. Die interessanten Bücher von deutschen Autoren der jüngsten Vergangenheit spielten alle fernab von Berlin – in der Provinz des deutschen Ostens oder Westens eben. Magenau sagte, er habe, wenn überhaupt, interessante Berlinbücher in den letzten Jahren nur von Ausländern gelesen. Und er wünscht sich mehr Texte gegen das „Berlingeschrei“ und den „Metropolenhype“.

Solche Texte etwa, wie Peter Wawerzinek an diesem Abend einen vorgelesen hatte. Der große Bedichter des Berliner Ostens hatte einen Fluchttext gelesen, eine Art Prosagedicht vom Fliehen aus der Stadt und dem Verweilen auf dem Land, vom bloßen Betrachten des Meeres und dem Willen nach einer großen Ruhe: „Die Städte sind so gerammelt voll von Seßhaften.“ Und: „Wir wandern den Strand entlang, einmal, zweimal, wie als um die Welt.“ Und er sagt, daß er damals, vor zwanzig Jahren, als er von der Ostsee nach Berlin gezogen sei, regelmäßig wieder hinausfahren mußte, ans Meer, um gegen die Wellen anzubrüllen und sich so fit zu machen für das Leben in Berlin danach.

Es ist so ein Unwohlsein unter allen Diskutanten des Abends, wenn es darum geht, den Ort des Berlinromans zu bestimmen. Immerhin wurden noch zwei Texte gelesen, die in Berlin spielen. Die junge Berliner Autorin Kathrin Röggla, die mit ihrem Neukölln-Roman „Abrauschen“ vor zwei Jahren einigen Erfolg hatte, las einen Love-Parade-Text, in dem sie die Inszenierung der Stadt und ihres glanzvollsten Ereignisses zu enttarnen versuchte. Und die 35jährige Anett Gröschner las über eine Eisverkäuferin im Ostberlin des Jahres 1984. Das völlig andere Berlin, das alte, ganz ohne Glanz und Tanz.

Alle sind sich einig: Mit der Hauptstadtinszenierung will man hier nichts zu tun haben. Eher mit „skurrilen Typen von nebenan“ (Birgit Dahlke), mit „Menschen aus verschiedenen Milieus, die miteinander kommunizieren“ (Magenau), oder Texten „die man in der Küche schreiben kann“ (Wawerzinek). Und vor der Tür wartete schon der Jeep.

Volker Weidermann

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