: Allein gegen sämtliche Schurken
Während Bösewicht Richard Virenque seine alte Popularität zurückgewinnt, soll Lance Armstrong nicht nur die Tour gewinnen, sondern auch ihr Image retten ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Seine persönliche Website hat Richard Virenque nach den Alpenetappen bei der 86. Tour de France trotz gegenteiliger Versprechungen noch nicht aktualisiert. Dafür kann man dort sein Buch „Ma verité“ (Meine Wahrheit) bestellen und zum Beispiel Radlersocken des Polti-Teams erwerben, die aber vorsichtshalber nicht Virenques Namen tragen, sondern den von Fausto Coppi. Das könnte sich bald ändern, denn die unerwünschteste Person bei dieser Tour, die erst auf Befehl des Internationalen Radsportverbandes (UCI) die Teilnahmeberechtigung bekam, ist auf dem besten Wege, die alte Rolle als Frankreichs Radsport-Darling wieder einzunehmen. „Er ist immer noch ihr Lieblingsfahrer“, wundert sich Spitzenreiter Lance Armstrong, „Gott weiß, warum, aber er ist es.“
Als Kandidat für den Gesamtsieg kommt Virenque zwar kaum in Frage, aber der 29jährige steckt schon wieder im gepunkteten Trikot des besten Bergfahrers und scheint am ehesten imstande, endlich den ersehnten Etappensieg für das Gastgeberland einzufahren. Die französischen Zeitungen, die den ungeständigen Protagonisten des Dopingskandals im letzten Jahr lange Zeit vorwiegend als Kleinkriminellen porträtiert hatten, füllen ihre Seiten inzwischen wieder mit Lobpreisungen auf Virenque. „Der Unerwünschte hat sich in einen Fahrer mit starkem Charakter verwandelt, der Lügner ist jetzt nur noch ein arroganter Mann, die Kritik an seinem Verhalten hat den Elogen über seine Persönlichkeit Platz gemacht“, schreibt leicht angeekelt El Pais. Hinzu kommt, wie die spanische Zeitung beobachtet hat, eine Art patriotische Kampagne, welche die französischen Mißerfolge darauf zurückführt, daß die Fahrer alle sauber sind, jene aus anderen Ländern aber nicht. Besonders die in der Tat erstaunliche Leistungssteigerung des vom Hodenkrebs genesenen Lance Armstrong steht dabei im Blickpunkt.
„Ein Amerikaner, der die Tour de France anführt, ist wie ein Russe, der in der Major League Baseball die meisten Homeruns schlägt, oder ein Nord-Koreaner, der die NBA dominiert“, schreibt Sports Illustrated. Das ist seit den Tagen eines Greg LeMond oder Andrew Hampsten zwar stark übertrieben, aber in jedem Fall ist Armstrong der Retter, auf den Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc so sehnlichst gewartet hat. Gäbe es den 27jährigen nicht, würde der Tour-Sieger 1999 vermutlich Alex Zülle heißen, ein Schweizer, der nach seinem Dopinggeständnis bis zum 1. Mai gesperrt war. Eine Katastrophe für Leblancs Projekt einer „Tour der Erneuerung“, welcher der Popularitätsschub in Sachen Virenque den Rest geben würde.
Statt dessen Lance Armstrong, ein smarter, eloquenter Texaner, eine anerkannte Persönlichkeit im Peloton, die Leblanc und der Tour schon einmal aus der Patsche half. Als 1995 sein Teamkollege Fabio Casartelli bei einem Sturz ums Leben kam, brachen die Veranstalter die Etappe nicht ab und ließen sogar zu, daß der Sieger, zufälligerweise Virenque, minutenlang fröhlich im Ziel herumkasperte, bis sie den Fahrern endlich mitteilten, was geschehen war. Armstrong war es, der am nächsten Tag die Traueretappe anführte und durch seinen Tagessieg kurze Zeit später, den er mit gen Himmel gestreckten Fingern Casartelli widmete, der Tour ihre Würde wiedergab.
„Sein Lebenslauf ist eine der schönsten Geschichten des Radsports“, schwärmt Eddy Merckx über Armstrong, der ihm bereits im April gesagt habe, daß er dieses Jahr die Tour gewinnen wolle. Früher fehlte dem Weltmeister von 1993 bei den großen Rundfahrten die Standfestigkeit in den Bergen, daß er diese nun besitzt, hängt makabrerweise mit seiner 1997 festgestellten Krebserkrankung zusammen.
Armstrong bestreitet zwar heftig, daß er wegen seiner überstandenen Krankheit legal Medikamente nehme, die auf der Dopingliste stehen, sagt aber, daß die Krebstherapie seine Leistungssteigerung mitbewirkt habe. „Meine physische Metamorphose hat mir erlaubt, acht Kilo Gewicht zu verlieren, ohne dabei Kraft einzubüßen.“ Ansonsten fällt ihm als Erklärung für seine Dominanz auch nur „harte Arbeit“ ein.
Bei zwei Aufenthalten in den Alpen und in den Pyrenäen hatte der früher nicht für seinen Trainingsfleiß berühmte Amerikaner die schwierigsten Etappen abgefahren und genau studiert, auch den Kurs des Zeitfahrens hatte er zuvor analysiert. „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, Bobby nicht“, kommentierte er ohne großes Mitleid das Ausscheiden seines Landsmannes, des Mitfavoriten Bobby Julich. Er jedenfalls habe gewußt, daß die Stelle, an der Julich stürzte, die gefährlichste auf der ganzen Strecke war.
Beim überlegenen Zeitfahrsieg in Metz und auf der ersten Alpenetappe hat er fast acht Minuten Vorsprung auf seine Verfolger herausgefahren, mehr, als selbst Miguel Induráin jemals zu einem solch frühen Zeitpunkt angehäuft hatte. Niemand glaubt, daß Armstrong diesen Vorsprung noch verspielen könnte, zumal am kommenden Samstag auf der vorletzten Etappe noch ein langes Zeitfahren im Programm ist. „Wenn nicht etwas Unvorhergesehenes passiert, er stürzt oder krank wird, hat er die Tour in der Tasche“, meint Laurent Fignon, der die Rundfahrt selbst zweimal gewann.
Für Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc würde ein Traum in Erfüllung gehen. Sein strahlender Held Lance Armstrong hätte dann nicht nur, wie einst Gary Cooper in „High Noon“, alle Schurken bezwungen, sondern er besitzt zudem einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber dem Westernhelden: Beredsamkeit. „Wir alle haben die Verantwortung, das Image unseres Sportes zu verändern“, verkündet Armstrong, „wir können ihn kaputtschlagen oder reparieren. Ich bin einer, der ihn reparieren will.“ Schöner kann es auch Richard Virenque in „Ma Verité“ kaum formuliert haben.
„Meine physische Metamorphose hat mir erlaubt, acht Kilo Gewicht zu verlieren, ohne dabei Kraft einzubüßen“
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