: Wegsperren und totschweigen
Seit Inkrafttreten eines repressiven Drogengesetzes steigt in Rußland die Zahl der Suchtkranken. In Privatkliniken, die als illegal gelten, versuchen Ex-Junkies ihren Leidensgenossen trotzdem zu helfen ■ Aus Moskau Karsten Gravert
Dmitri führt mich durch die staubige Hitze, die sich zwischen den Moskauer Wohnblocks staut. Die Adresse wollte er am Telefon nicht sagen, seit er und seine Organisation vor einem Monat aus ihrer alten Wohnung gejagt wurden, ist er vorsichtig geworden. „Dem Vermieter wurde die Sache zu heiß.“ Dmitri lächelt säuerlich. „Mit Kriminellen wollte er nichts mehr zu tun haben.“ Wir steigen durch einen fauligen Hausflur, und als sich der 28jährige Ex-Junkie vor neugierigen Nachbarsblicken sicher glaubt, läßt er das abgesprochene Klingelzeichen surren. Hinter der schilderlosen Tür verbirgt sich eine private Drogenklinik. In Rußland bedeutet das jetzt: eine illegale Organisation.
Schuld daran ist das repressive Drogengesetz, das im vergangenen Jahr in Kraft trat. „Über Rauschmittel und psychotropische Substanzen“ heißt der legislative Holzhammer, der nicht nur die Drogentherapie zum staatlichen Monopol erhebt, sondern auch die Aufklärung über Drogen als „Propaganda“ verbietet und drakonische Strafen für die zwei Millionen User im Lande bereithält. „Wegsperren und totschweigen“ lautet die Devise, mit der den 400.000 Abhängigen zu Leibe gerückt werden soll.
Dmitri hing selber jahrelang an der Spritze. Vor zwei Jahren sah er nur noch zwei Alternativen: Überdosis oder sofortiger Entzug. Eine staatliche Klinik kam für ihn nicht in Frage, dort herrschten knastähnliche Zustände, und viele kämen kranker heraus, als sie hereingekommen sind: „Wo 40 Junkies zusammen eingesperrt werden, ohne Betreuung, da multipliziert sich das Bedürfnis zu drücken ins Unermeßliche. Kanäle finden sich immer, häufig kann man sogar direkt bei den Wächtern Stoff kaufen.“ Dmitri geriet an einen heruntergekommenen Doktor, der ihn während der Therapie fast umgebracht hätte. „Seitdem weiß ich, was man beim Entzug alles falsch machen kann.“
Zur Illustrierung läßt er seine Hose runter: Neben einem Buddha-Tatoo klafft eine kaum verwachsene Wunde, zwischen dem schwärigen Fleisch sieht man den Hüftknochen. Ein Andenken an eine dilettantisch gesetzte Spritze. Doch Dmitri erwachte nach zehn Tagen aus der Bewußtlosigkeit, und seitdem versucht er, Leidensgenossen zu helfen.
„Rückkehr zum Leben“ heißt das Konzept, bei dem ehemalige Heroinsüchtige ihre Entzugserfahrungen nutzen, um andere Junkies von der Nadel zu bringen. Dmitri hat sich mit ein paar Gleichgesinnten eine Art Wohnzimmerklinik eingerichtet: fünf Betten in einer abgedunkelten Wohnung, einen gut gefüllten Kühlschrank, Videorecorder und einen Koffer voller Schlaf- und Schmerzmittel. Zur Detoxifizierung wird ein Tropf ins rustikale Tapetenmuster genagelt, Ersatzdrogen gibt es nicht, nur Zigaretten. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung kostet 50 Dollar, viermal billiger als normale Privatkliniken, aber auch wer kein Geld hat, wird von den Suchthelfern nicht wegeschickt.
Heute hat Ruslan Nachtdienst, er rührt gerade ein Bohnengericht zusammen und zankt sich mit dem zitterigen Sergej, der schon fünf Tage Entzug hinter sich hat. Sergej kämpft um die Wursteinlage, aber Ruslan bleibt seinen vegetarischen Prinzipien treu. Schwer vorzustellen, daß der schmächtige Glatzkopf noch vor einem Jahr der unangefochtene Drogenprinz der Moskauer Vorstadt Istra war. Sein schillerndes Leben fand ein jähes Ende, als sein bester Freund von benachbarten Mafiosi erschossen wurde. „An dem Tag sah ich mich im Spiegel an, sah, was ich verloren hatte durch sechs Jahre Heroin, und beschloß aufzuhören. Ich schloß mich ein und brachte mich alleine durch.“ Nach diesem titanischen Willensakt hilft er nun anderen durch die Entzugshölle.
Doch bis jetzt wissen nur wenige von der Einrichtung, zur Zeit kurieren sich hier nur zwei Patienten. Kleine Zettelchen, die an Bekannte aus der Szene verteilt werden, sind die einzige Werbung, die für „Rückkehr zum Leben“ in Frage kommt, denn jegliche Aufklärungsarbeit auf der Straße wird durch den Paragraphen „gegen Drogenpropaganda“ im Keim erstickt. Der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ wurde jüngst verboten, Einwegspritzen gegen die weitere Verbreitung von Aids unter Junkies zu verteilen. Boris Zelinskij, Chef der ersten Abteilung für illegalen Drogenhandel im Innenministerium und geistiger Vater des Schauergesetzes, erklärt dies so: „Da der nichtmedizinische Gebrauch von Drogen verboten ist, ist die Ausgabe von Spritzen praktisch eine Aufforderung, eine Provokation zu Straftaten.“ Zynischer Legalismus in einem Land, in dem 71 Prozent der HIV-Positiven durch dreckige Spritzen infiziert wurden.
Der Propagandaparagraph greift aber noch weiter: Mit ihm ist eine seit KGB-Zeiten nicht mehr gekannte Medienzensur möglich geworden. Wer Informationen über Drogen verbreitet, die sich nicht auf das schulmeisterliche „Böse, böse“-Klischee beschränken, wird mundtot gemacht. Leutnant Sergejew kündigt bereits die Schließung von Jugendjournalen an, und auch bestimmte Filme, Schallplatten und Bücher sind dem Hardliner ein Dorn im Auge: „Verboten ist es, den Drogenrausch in schönen Tönen zu beschreiben. Verboten ist es, die Vorteile einer Droge gegenüber einer anderen zu beschreiben, z.B. daß es weiche Drogen gäbe, die nicht so schädlich seien usw.“
Auch Dmitri hat es schon getroffen. Seine Radiosendung auf Mittelwelle wurde kürzlich abgesetzt. Bei ihm konnten sich Abhängige und ihre Angehörigen per Telefon-Hotline Rat holen, jetzt passe solcherlei Information nicht mehr ins Konzept, wie man ihm kurz angebunden mitteilte.
Dmitris zweiter Patient kommt in die Küche geschlichen. Sascha ist erst vier Tage hier, gebeugt zitternd läßt er sich von Sergej in die Wursteinlagenkontroverse einführen, ist aber zu schwach, um für ihn Partei zu ergreifen. Vor einer Woche wurde er mit 0,19 Gramm Heroin, seiner Tagesration, auf der Straße erwischt. Auf der Polizeiwache schlug man ihn, wie in Moskau üblich, zunächst zusammen und raubte ihn aus, um ihn dann ohne Kleidung in eine nasse Zelle zu werfen. Hier hockte er drei Tage, frierend und hungernd, die Kost beschränkte sich auf Tee ohne Zucker und einen Teller Suppe am Tag.
Das Gesetz kennt keinen Unterschied zwischen Großdealer und einfachem Konsumenten, ab einem Krümel von 5 Milligramm Heroin gilt man in Rußland schon als Schwerverbrecher, und so prophezeite ihm der Pflichtverteidiger achselzuckend 7 bis 15 Jahre Knast. Und dann hielt er die Hand auf: Für 7.000 Dollar Schmiergeld wurden die Protokolle abgeändert und Sascha von seinen Eltern bis zum Prozeß freigekauft. Wenn sich noch mehr Geld findet, hat er sogar Chance auf eine Bewährungsstrafe.
Das Gesetz schenkt dem korrupten Polizeiapparat noch mehr Möglichkeiten zu Drangsalierung und Schmiergelderpressung. Der Menschenrechtler und Psychiater Prof. Juri Sirenko kann nicht verstehen, wie es mit nur zwei Gegenstimmen durch das russische Parlament kommen konnte: „Nach Handschrift, Inhalt und Geist ist das Gesetz rein polizeilich-restriktiv. Es wurde im Innenministerium erdacht, völlig ohne Rücksprache mit Narkologen, und widerspricht dem Gesetz auf psychiatrische Hilfe und unserer Verfassung. So kann heute zum Beispiel jeder Polizist einen unbescholtenen Passanten zu einer medizinischen Zwangsuntersuchung abführen, nur wenn der ihm nicht ganz nüchtern erscheint.“ Wer nicht genügend Geld dabei hat und sich trotzdem weigert, die Zwangsuntersuchung mit Blutabnahme über sich ergehen zu lassen, gilt als überführter Drogenkonsument. Und dafür gibt's bis zu drei Jahre auf Bewährung.
Als Vorsitzender der freien Psychiatervereinigung Rußlands trifft Professor Sirenko vor allem der unprofessionelle Blindschlag gegen die private Drogenpsychiatrie: „In unserem Land beruht die Narkologie fast ausschließlich auf nichtstaatlichen Institutionen. Die besten Spezialisten arbeiten in diesem Bereich, dem nun eine völlige Desorganisation bevorsteht. Solche Gesetze können unmöglich erfüllt werden. Ihr restriktiver Charakter erniedrigt lediglich die Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich zwar posttotalitär zu nennen beliebt, aber in vollem Umfang autoritär geblieben ist.“
Und das platte Verbotsdenken der russischen Legislative ist auch kaum geeignet, das wachsende Rauschgiftproblem in den Griff zu bekommen. Die totale Verstaatlichung der Therapie wird den alarmierenden Drogenstatistiken lediglich eine fesche Frisur im Sowjetstyle verpassen: Von der Zwangsregistrierung und der nutzlosen Drangsal in staatlichen Kliniken abgeschreckt, werden sich Drogensüchtige von den Heileinrichtungen fernhalten. Flugs verschwinden sie somit aus der Statistik.
Schon jetzt können sich die ordnungshütenden Organe einen Pseudoerfolg auf die Dienstwaffe ritzen: Im Monat nach Einführung des Gesetzes sank die Zuwachsrate der offiziell registrierten Abhängigen um mehr als die Hälfte. Währenddessen aber wächst die wirkliche Zahl der Süchtigen um 50 bis 70 Prozent im Jahr. Die Beschaffungskriminalität stieg in den letzten fünf Jahren um das Zehnfache. Besonders beunruhigend ist: die Einsteiger werden immer jünger. Jeder fünfte Schüler hat schon illegale Drogen probiert, durchschnittlich im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal.
Auch Sergej kann mit seinen 18 Jahren schon auf eine stattliche Drogenkarriere zurückblicken. Mit 14 rauchte er seinen ersten Joint, mit 16 sammelte er erste Erfahrungen mit den hiesigen Ordnungskräften: „Sie haben mich mit etwas Marihuana erwischt, verprügelt und eine halbe Stunde in den Schnee gedrückt, bis meine Hände ganz taub und blau vor Frost waren. Auf der Wache haben sie mir dann alles geklaut, Uhr und Walkman und sogar meine neue Jeans“, erzählt er mit kindlicher Schmollmiene. „Und dann haben sie mich weiter geschlagen, aber nur in den Bauch und hier, in die Nieren, damit keine unnötigen Spuren zurückbleiben.“
Ein Jahr später machte er bereits seinen ersten Heroinentzug in einer staatlichen Klinik. Doch schon am dritten Abend weihte man ihn in das dortige Beschaffungssystem ein: Jeden Abend um neun fuhr ein Auto vor eines der Fenster im zweiten Stock. An einem abgerollten Kassettenband ließ man ein paar Scheine herunter und konnte wenig später sein Tütchen Rauschgift einholen. Auch sein zweiter Therapieversuch scheiterte kläglich. Erst als er schon fast die gesamte Einrichtung seiner Mutter verschachert und sich mit Hepatitis B und C infiziert hatte, entschloß er sich zu einem ernsthaften Entzug bei Dmitri.
Dmitri und seine Freunde werden weitermachen, und wenn eines Tages wirklich die Polizei vor der Tür steht, werden sie sich wehren. Wenn nötig, gehen sie bis vors Verfassungsgericht. Doch solange niemand an ihrem neuen Versteck klopft, bleiben sie lieber still. Sergej versucht schon lange, Dmitri auf einen ersten Spaziergang mit alkoholfreiem Bierchen am nächsten Kiosk festzunageln. Doch der bleibt trotz allem Gemaule hart: Noch ist Sergej zu schwach auf den Beinen, um sich bei der Bullenhitze auf die Straße trauen zu können. Blaß und wankend wäre er ein gefundenes Fressen für herumlungernde Milizionäre, und wenn die erst mal die Einstichspuren an seinen Armen entdecken, gehen die Scherereien mit der Staatsmacht von vorne los.
Der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ wurde jüngst verboten, Einwegspritzen an Junkies zu verteilen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen