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Ebenso langweilig wie spießig

■  „Der Verräter“: Der Fall Hansjoachim Tiedge war einer der größten Spionageskandale der Bundesrepublik. Seit der Wende lebt der Überläufer im Moskauer Exil (23 Uhr, ARD)

Wer hätte das gedacht: „Ich habe es mir persönlich nie übel genommen, ich wußte ja, es war der einzige Ausweg, den ich hatte.“ Der Ausweg, das war der ganz nahe Osten, das war die DDR, und genutzt hat ihn der frühere Verfassungsschützer Hansjoachim Tiedge, derzeitiger Wohnsitz Moskau. Ziemlich verlebt sieht der seit langem untergetauchte Überläufer auf den Fernsehbildern aus, die ARD-Reporter Jörg Hafkemeyer aus der russischen Hauptstadt mitgebracht hat. Sein Alkoholkonsum hatte Tiedge schon zum „Sicherheitsrisiko“ im Geheimdienst gemacht. Die Sauferei hat Spuren hinterlassen.

Tiedge hat einen der größten Spionageskandale in Deutschland-West verursacht, vor 14 Jahren. Und anders als er selber nehmen ihm die früheren Kollegen auch heute noch den Abgang in den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat sehr übel. Schließlich hat Tiedge dem Gegner sein komplettes Wissen auf den Tisch gepackt. Über drei Jahre zogen sich allein die Vernehmungen in einer Geheimdienstvilla bei Berlin – ein worst case für jeden Geheimdienst.

Die Causa Tiedge beschäftigt die Medien seit eineinhalb Jahrzehnten. Erst mußte Verfassungsschutzpräsident Heribert Hellenbroich wegen der Flucht seines Mitarbeiters den Hut nehmen. Dann wird Tiedge nach dem Fall der Mauer in seinem Ostberliner Asyl aufgespürt. Der Agentenjäger wird Gejagter, er flüchtet vor der deutschen Einheit, weil die für ihn nur Haft bedeutet, setzt sich nach Moskau ab, wo die KGB-Nachfolgeorganisation für Schutz und Sicherheit bürgt.

Wäre es nur dabei geblieben. Doch der Mann mußte seine Memoiren schreiben – mehrere hundert Seiten, von der Zeit längst überholt und überdies ebenso langweilig wie spießig. Und es wurde sogar noch schlimmer: Deutsche Staatsanwälte versuchten im vergangenen Jahr, den Vertrieb der Autobiographie (Titel: „Der Überläufer – eine Lebensbeichte“ ) zu verhindern. Ein vergebliches Unterfangen, denn Tiedges aufopferungsvoller Kampf mit der Schriftstellerei ist auch im Internet zu lesen.

Jetzt also der Film zum vermurksten Buch, ARD-exclusiv, der MDR machte es möglich. Nichts bleibt dem Zuschauer erspart. Schon in der gedruckten Fassung durften wir lesen: „Der Arbeitstag begann mit dem Öffnen des Panzerschrankes, der halbjährlich umgestellt werden mußte. Ihm entnahm ich die unterschiedlichen Aktenstapel, die ich am Vorabend hineingelegt hatte ...“ Jetzt raunt der Überläufer über die Zeit seiner Vernehmungen bei der Stasi: „Es blieb mir nichts anderes übrig, als mit den Wölfen zu heulen. Ich konnte ja nicht wissen, daß es ein sehr angenehmes Heulen wird.“ Zum Heulen, dieser Spion, der in die Medien kam. Wolfgang Gast

„Der Arbeitstag begann mit dem Öffnen des Panzer- schrankes, der halbjährlich umgestellt werden mußte“

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