: Keine Macht den Nationalisten
Das UN-Protektorat bietet eine Chance zur Demokratisierung des Kosovo. Bedingung ist, daß die internationale Gemeinschaft die gemäßigten Kräfte unterstützt und deren Eigenverantwortung fördert ■ Von Paul Hockenos
Wenn von einem Protektorat die Rede ist, sind die Assoziationen nicht weit: Bilder aus dem kolonialen 19. Jahrhundert tauchen auf, von weit verstreuten Kolonien und paternalistischen Verwaltungsbeamten. Es ist schwer, diesen Assoziationen zu widerstehen. Statt nach Istanbul, Berlin oder Belgrad wenden sich die Kosovaren eben heute nach New York, um die Dekrete in Empfang zu nehmen, die künftig ihr Leben regeln sollen. Ironischerweise, auch wenn der Status zur Zeit auf Zustimmung stößt, haben die Kosovaren mit dem Protektorat das Gegenteil der Selbstbestimmung erreicht, die sie erkämpfen wollten.
Mag sein, daß man von diesen historischen Assoziationen etwas lernen kann, doch wesentlicher ist der Unterschied zwischen früher und heute. Weder war der Nato-Militäreinsatz gegen Jugoslawien ein imperialistischer Krieg, noch sind das Protektorat im Kosovo oder das Quasi-Protektorat in Bosnien Konstruktionen neuer Weltmächte oder koloniale Vorposten. Bisher ist unklar, welche Art von Protektorat im Kosovo errichtet werden soll. Folglich besteht auch die Chance, das Konzept quasi neu zu erfinden, es mit demokratischen, rechtsstaatlichen Inhalten zu füllen, die dem Ende des 20. Jahrhunderts angemessen sind.
Das wesentliche Motiv, das Kosovo einem UN-Protektorat zu unterstellen, war, die Entscheidung über einen dauerhaften Status zu verschieben und dabei einen Hort der Stabilität in einer instabilen Region zu schaffen. Nur so war es möglich, die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Kosovo zu einem „Non-Topic“ zu machen. Obwohl offiziell Teil Jugoslawiens, ist das Kosovo heute weder eine Republik noch autonome Provinz oder unabhängiger Staat. Dieser unklare Status verbannt die explosive Debatte über eine mögliche Unabhängigkeit in den Hintergrund und ermöglicht es den Kosovaren, sich den drängenderen Fragen zu widmen: dem Wiederaufbau von Krankenhäusern, Schulen und Fabriken. Dieser Status gibt Serbien und Montenegro Spielraum für einen Demokratisierungsprozeß und fungiert als Ventil, indem es Druck von Albanien und Makedonien nimmt.
Selbstredend wird die UN-Verwaltung das letzte Wort über sämtliche Angelegenheiten sprechen – von der zivilen Verwaltung bis zu den Lehrplänen. Diese Autorität jedoch kann so oder so ausgeübt werden: entweder auf eine paternalistische, demütigende Art, die zu Passivität und Abhängigkeit, später zu Verachtung führen wird, so wie in den früheren Kolonien. Oder der UN-Verwaltung gelingt es, den demokratischen Kräften im Kosovo zu helfen, eine pluralistische Demokratie mit einer sich selbst tragenden Wirtschaft zu entwickeln. Auch wenn die Kosovaren in diesem Jahrhundert keine eigene Regierung gestellt haben, gibt es demokratische Traditionen. Über acht Jahre haben Kosovo-Albaner im Kosovo und im Ausland einen funktionierenden Schattenstaat errichtet und finanziert. Es wäre töricht von der UN, dies zu ignorieren und „Big Brother“ machen zu lassen.
Gleichzeitig muß die internationale Gemeinschaft alles tun, um die starke nationalistische Strömung zu unterminieren, die schon seit langem in der politischen Kultur des Kosovo existiert und in jüngster Zeit noch an Boden gewonnen hat. Bisher haben vor allem die USA genau das Gegenteil getan. Anstatt die gemäßigten Kräfte wie den Premierminister Bujar Bukoshi zu unterstützen, hat der Westen unerklärlicherweise den nationalistischen UÇK-Führer Hasim Thaci gestützt. Zugegebenermaßen gibt sich Thaci zur Zeit Mühe, die UÇK unter Kontrolle zu halten und die Fristen für die Waffenabgabe einzuhalten. Auf Dauer jedoch haben Schlägertypen wie Thaci dem Land nichts zu bieten. Wenn es zu freien Wahlen kommt, wird wie schon in Bosnien ein gemäßigt-liberaler Block auf einen nationalistischen Block treffen. Und auch hier wird die Wahl nationalistischer Führer dazu führen, daß diese den Demokratisierungsprozeß torpedieren und die Sicherheit in der Region gefährden. Die ethnische Logik des Dayton-Abkommens machte die Wahl und Wiederwahl von Nationalisten zum Fait accompli. Washingtons Unterstützung für Thaci und Co. könnte denselben Effekt haben.
Manche Kritiker konstatieren, daß die Bevorzugung gemäßigter Kräfte vor nationalistischen an sich schon undemokratisch ist. Tatsächlich ist das Gegenteil richtig. In Bosnien hat die Bereitschaft, Kräfte zuzulassen, die den Demokratisierungsprozeß für nichtdemokratische Ziele nutzen, die Nationalisten an allen drei Fronten befähigt, den Friedensprozeß zu blockieren. Zu selten haben SFOR und der Hohe Repräsentant gewagt, sich den Verhinderern entgegenzustellen. In Ausnahmesituationen wie in Bosnien und im Kosovo müssen die internationalen Instanzen ihre Macht nutzen, um die zu unterstützen, die willens sind, Bedingungen für das Heranwachsen einer demokratischen Kultur zu schaffen.
Das gilt auch für die einheimischen Medien. In keinem westlichen Land gibt es eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit. In der Balkanregion waren Haßtiraden, üble Nachrede und Hetzschriften die wesentlichen Mittel auf dem Weg, die Leute gegeneinander aufzubringen. Die Regulation derartiger Ausdrucksweisen verletzt nicht den Grundsatz der Pressefreiheit, sondern setzt Kontrolle an bösartige Propaganda, die letztlich zum Krieg führt. Die überwiegende Mehrheit der Bosnier, Kosovaren und auch die meisten anderen Balkanvölker wollen in einer friedlichen, westlichen Gesellschaft leben. Im Interesse dieser Menschen zu handeln, auch wenn die von ihnen gewählten Politiker es nicht tun, ist demokratisch. Es ist der einzige Weg, den Kreislauf aus Angst und Verdächtigungen, der die Nationalisten an der Macht hält, zu durchbrechen.
Das Internationale Protektorat hat schon seine erste Prüfung nicht bestanden, als es darum ging, die Serben im Kosovo zu schützen – ein Debakel, das noch weitreichende Folgen haben wird. Wie tief die Feindschaft zwischen Albanern und Serben auch gewesen sein mag – der Massenexodus der Serben war nicht zwingend. Er wurde jedoch vor allem durch drei Faktoren ermöglicht: 1. Durch das furchterregende Ausmaß der Kriegsverbrechen, die die Serben begingen, verschlimmert durch die Bomben der Nato und die Weigerung, die Zivilbevölkerung durch Bodentruppen zu schützen. 2. Durch die verspätete Reaktion der KFOR-Truppen auf Racheakte der Albaner. 3. Durch das Versagen prominenter Vertreter des Kosovo wie Bukoshi, Thaci oder Veton Surroi, die nicht rechtzeitig zu Toleranz aufgerufen und albanische Racheakte verurteilt haben.
So gibt es heute noch ein internationales Protektorat auf dem Balkan, das sich auf dem Papier einer multiethnischen Gesellschaft verschrieben hat, die in der Realität nicht mehr existiert.
(aus dem Englischen
J. Goddar)
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