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„Chance und Schuld“

Lehrstück über Hilfsbedürftige und Helfer  ■ Von Gabriele Goettle

Der Antiquar, unser umsichtiger Führer durch die komplizierte Welt der Armen, Außenseiter und Parias, scheint wieder auf dem Wege der Genesung zu sein. Seine Wangen sind leicht gerötet, das Auge ist blank, die Brille geputzt, der Kragen sauber. Mit mokantem Lächeln reicht er uns ein sorgsam gefaltetes Blatt Papier: „Ich habe eine Frau kennengelernt, die will per Gesetz die Armut abschaffen. Sie heißt Mascha und ist Französin – oder nein, ich glaube, sie ist Deutsche, hat aber lange in Frankreich gelebt, bis 92. Das ist ja nicht so wichtig – jedenfalls will sie die Armut abschaffen. Sie lebt mit einem katholischen Priester zusammen, bedenkt mal. Kinder hat sie auch, die sind aber schon groß – und sie ist schätzungsweise Anfang 50. Wir können heute Nachmittag doch mal hingehen, zu dem Gespräch im ,Seeling'. Hier steht alles drauf.“ Das Blatt ist beidseitig bedruckt und erläutert in knapper Zusammenfassung ein „Rahmengesetz zur Bekämpfung von Armut und sozialem Ausschluß“, das im Juli 1998 von der Französischen Nationalversammlung verabschiedet wurde. Offensichtlich handelt es sich um ein Gesetz, das den ohnehin bereits geltenden, aber nicht Allgemeingut gewordenen Grundrechten zur Durchsetzung verhelfen will – so jedenfalls lautet sein Auftrag. „Bekräftigend“ soll es einwirken auf verbriefte Rechte, wie das Recht auf Arbeit, auf Wohnraum, auf gesicherten Lebensunterhalt, auf Familienleben, auf Bildung und Kultur. In mehrjährigen Programmen, die ihrerseits erst noch ausgearbeitet werden müssen, werden dann diese Grundrechte – unter Beteiligung aller Institutionen, der gesamten Gesellschaft und natürlich ganz besonders der betroffenen Armen – Schritt für Schritt verwirklicht werden. Vom Lernen ist viel die Rede, von „Menschenrechtserziehung“ und „Wahrnehmung von Armut“, vom „partnerschaftlichen Umgang mit Menschen in Armut“, der „Einübung eines ebenbürtigen Dialoges“, aber mit keinem Wort werden die materiellen Bedingungen der Rechtsschwäche und der gesellschaftlichen Widersprüche gestreift. Der Antiquar schiebt seine Brille auf die Stirn, ergreift das Blatt und liest in feierlichem Tonfall: „Punkt eins: Zielrichtung des Gesetzes ist: ,die Armut zu besiegen durch die Umsetzung der Grundrechte im Namen der gleichen Würde aller Menschen' ... Ach, dabei fällt mir ein, wißt ihr noch, wie der Versprecher ging, von der Frau vom Bundeskanzler Helmut Kohl damals? Sie sagte: ,Die Würde des Menschen ist untastbar', statt ,unantastbar'.“ Der Antiquar wird von einem Lachanfall überwältigt, trocknet lachend seine Tränen und stößt hervor: „Stimmt doch! Zu Mascha habe ich neulich gesagt, daß in Frankreich Arme und Reiche das gleiche Recht haben, unter den Brükken zu schlafen. Sie hat nicht gelacht, ich glaube, sie nimmt ihre Sache zu ernst.“ Er reicht mir das Blatt zurück und deutet auf einen handschriftlichen Zusatz. Neben dem Stempel ATD Vierte Welt e.V. steht ATD – AIDE & TOUTE DETRESSE. Er erklärt: „Das ist ihre Hilfsorganisation, sie soll sogar ziemlich groß sein in Frankreich. Mascha will jetzt auch in Deutschland die Armut abschaffen, dazu will sie erst mal Europagelder beantragen und in Brüssel Forderungen stellen für die existentielle Absicherung und die Rechte der Armen. So habe ich das verstanden. Aber ob da was draus wird, ich weiß ja nicht.“

Der Seeling-Treff, eine öffentlich geförderte Tageseinrichtung für Arme und Obdachlose, liegt in der gleichnamigen Straße unweit vom Schloß Charlottenburg. Die ehemaligen Ladenräume sind frisch renoviert und umgestaltet, es gibt nur einen Tresen mit Schmalztopf, Geschirr, Besteck und Brötchen zur freien Selbstbedienung. Seit der Übernahme durch einen anderen Träger sind für Kaffee und Mittagessen kleine Beträge zu entrichten, das Essen kostet 2 Mark, eine Tasse Kaffee 20 Pfennig, eine Thermoskanne Bohnenkaffee 1 Mark. Tee gibt es kostenlos, je nach Spendenlage werden auch noch Obst und Kuchen verteilt. Hinter der Schaufensterscheibe sitzen die Besucher, man plaudert, spielt Karten, ißt oder liest. Hinter dem Tresen steht Maria, eine etwas rauh wirkende, aber sehr herzliche ältere Griechin. Auch sie ist eine Besucherin und gibt an diesem Tag Essen und Getränke aus. Nebenan, im stets etwas chaotischen Büro der Sozialarbeiter, gibt es neben diversen Hilfen, Tips und guten Ratschlägen auch verschiedene Tageszeitungen, den Spiegel und das hauseigene Blatt Seeling-Kurier, das von einer Schreibgruppe im Computerraum selbst produziert wird. Etwas verspätet erscheint Mascha. Sie ist Anfang 50, dunkelhaarig, zartgliedrig und von einem gepflegten Duft umhüllt. Ihre Fußnägel sind rot lakkiert. Das alles wirkt hier ein wenig ungewohnt, denn die Frauen sind in der Regel weder finanziell in der Lage, noch in der Stimmung, sich kosmetisch zu verschönern. Der Antiquar ist sichtlich animiert und bietet ihr den freien Platz an seiner linken Seite an. Rechts neben ihm sitzt Bruno, der so eine Art Sancho Pansa ist, ihm ab und zu den Wagen schiebt, ein Eis spendiert. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, das mit der lebensgroßen Abbildung eines zähnefletschenden Tigers verziert ist. Der Tigerkopf spannt sich, fast plastisch wirkend, über die Rundung eines beachtlichen Bauches – vom Antiquar Futterkrippensyndrom genannt –, darüber ruht Brunos runder Kopf mit dem freundlich verschmitzten Gesicht, den winzigen Augen und der Stoppelfrisur. Bruno besitzt einen halben Bauernhof und hat eine Herzkrankheit. Außer Mascha, Elisabeth und mir sitzt noch eine weitere Frau am Tisch, sie ist etwa Anfang 30, mittelblond, stämmig, spricht bayrischen Dialekt. Die vordere obere Zahnreihe fehlt ihr oder ist stark defekt, was dazu führt, daß die Oberlippe leicht zurückfällt und eine Art Lispeln entsteht. Nun setzen sich noch die zwei diensthabenden Sozialarbeiter zu uns. Der ältere von beiden klatscht, um Ruhe bittend, in die Hände und fragt die etwa 15 Anwesenden, wer von ihnen noch am Gespräch teilnehmen möchte. Es ertönt allseits dankende Ablehnung. Ein Mann, so etwa Mitte 50, groß und kräftig, eilt vorbei und wird dringlich in die Runde gebeten. Er nimmt sofort Platz und ordnet seine Unterlagen. Der Neuankömmling heißt Peter, hat einen imposanten Schnauzbart und sieht aus wie eine gewagte Mischung aus Stalin und Nietzsche. Bart, Pullover und Hose sind ziemlich verschmutzt. Mascha legt Block und Füllfederhalter auf den Tisch und sagt: „Grüß Gott, mein Name ist Mascha Join-Lambert, wir wollen uns heute mit dem Thema ,Chance und Schuld' beschäftigen, zuerst möchte ich Sie aber um Ihre Namen bitten.“ Bruno und der Antiquar weigern sich, ihre Namen zu nennen. Der ältere Sozialarbeiter erklärt der fassungslosen Frau Join-Lambert, daß es sich bei dieser Einrichtung um ein sogenanntes „niedrigschwelliges“ Angebot an Sozialarbeit handelt, in der Besucher auf Wunsch anonym bleiben können. Man übergeht den peinlichen Moment, denn es wurde ja für eine Sekunde lang deutlich, daß die anwesenden Kandidaten wieder einmal das Material sind für Unterlagen und Förderanträge.

Nach einigen einleitenden Worten folgen längere, allgemein gehaltene Ausführungen des jüngeren Sozialarbeiters über die Folgen von Arbeits- und Obdachlosigkeit, Behördenwirrwarr und Resignation. Jedesmal, wenn Peter ihn unterbrechen will, sagt Mascha: „Ach bitte, lassen Sie ihn doch ausreden“, sie hält ihn für einen der Besucher hier. Erst als allmählich Unmut aufkommt, der Irrtum aufgeklärt wird, dürfen die Betroffenen das Wort ergreifen, das freilich nicht so wohlgeordnet resümiert. Peter spricht mit klarer, selbstsicherer Stimme und leichtem Berliner Dialekt: „Aber sieh doch mal, ich bin also jetzt 40 Jahre gewerkschaftlich organisiert, ich möchte mal eins fragen. Verlangt man von mir, daß ich am Arbeitsmarkt den Wettbewerb mitmache, wer am billigsten arbeitet? Daß ich da eine Chance ergreife, die gar keine ist? Man liest, von der Bild-Zeitung bis zur Frankfurter Allgemeinen, daß die Arbeitslöhne und die Lohnnebenkosten zu hoch sind in Deutschland. Jetzt frag' ich dich also, wie tief müssen deutsche Löhne sinken, bevor also unsere Unternehmen es wieder rentabel finden, hier zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen? Soll ich also mit den Polen konkurrieren, oder mit den anderen, die für ein Zehntel des deutschen Lohns arbeiten? Ich frage, wie tief müssen deutsche Löhne sinken?! Ich habe gestern BBC-London gehört, die haben gesagt, daß in Westeuropa vor 20 Jahren nur jede 20. Familie mit Kindern unter der Armutsgrenze gesunken ist, heute ist es jede 3. Familie. Wir haben 10 Millionen Arbeitslose.“ Der jüngere Sozialarbeiter sagt: „Peter, ich glaube, wir müssen von der offiziellen Statistik sprechen. Die Arbeitslosenstatistik sagt, wir haben 4 Millionen Arbeitslose ... Daß es wahrscheinlich 7 Millionen sind, da streite ich nicht drum, aber wir wissen es nicht genau. Nun bekämpfen die Länder das Problem eben verschieden. Ein Land sagt, okay, ich schaffe hier folgendes, ich schaffe hier Arbeit und setze die Arbeitslöhne tiefer. So ist es in Amerika gegangen, d. h., daß die Jobs immer billiger werden, wie du sagtest, daß man weniger verdient, aber dadurch ist die Arbeitslosigkeit enorm gesunken in Amerika, aber in Deutschland ... Also hier in dieser Gesellschaft funktioniert das nicht, hier muß man immer eine Gratwanderung machen, eine Gratwanderung zwischen der Wirtschaft und dem Sozialen.“ Großes Stühlerükken ringsum, die Kartenspieler und andere Besucher verlassen mit Gepolter den Raum. Als wieder Ruhe herrscht, fährt der Unterbrochene fort: „Ja also, entweder hat das Soziale die Oberhand, dann klappt die Wirtschaft nicht, das gibt es ja in einigen Ländern, daß die Wirtschaft daran kaputt geht, weil das Soziale ...“ „Aber das ist doch Quatsch!“ ruft Peter, und der Sozialarbeiter sagt: „Moment ..., ich bin noch nicht fertig, äh ...“ Aber Peter unterbricht ihn in ruhigem, freundlichen, aber bestimmten Tonfall: „Also ich lese immer den Wirtschaftsteil der Zeitungen – das ist ja sowieso der interessanteste Teil – da lese ich also, erst mal, haben wir alle eine Riesenverschuldung, mir haben die Haare zu Berge gestanden, wie hoch die ist, und sie wird täglich höher. Wir werden amerikanische Verhältnisse kriegen, die USA haben jetzt 150 Milliarden Dollar Haushaltsdefizit, und was das kostet, an Zinsen kostet! Und weitere Kredite und die Zinsen werden wieder verzinst, das ist also 'ne Exponentialkurve, die immer steiler wird und die man eben eines Tages auch nicht mehr abbauen kann ...“ Mascha meldet sich nun energisch zu Wort: „Aber jetzt sollten wir doch mal zu unserem Thema kommen, ,Chance und Schuld', sie wollten dazu etwas sagen, vorhin?“ Sie blickt die Bayrin aufmunternd an.

„Ich meine, die Gesellschaft – hm, die schaut doch seit ewigen Jahren so aus – hm ..., daß die Herkunft ...“, sagt die Bayrin unerschrocken, und das „Hm“ rhythmisiert ihre Rede bekräftigend: „Ich bin in einer kinderreichen Familie groß geworden – hm ..., da war es nicht so gut mit der Förderung, mußte auf 'ne Sonderschule gehen – hm ... Sonderschule heißt, keine richtige Lehre kriegen, weil überall sagen sie, was willst denn du – hm, du warst ja in der Sonderschule. Überall bist du erst mal abgestempelt, weil du auf 'ner – hm ... Doofenschule warst. Ich hab' aber trotzdem mit 'ner Lehre angefangen, konnte die Lehre aber – hm ... nicht zu Ende führen ... Eben weil wir 'ne kinderreiche Familie waren. Vater und Mutter – hm ... sind arbeiten gegangen, die kleinen Geschwister waren oft krank – hm ..., ich war die Älteste, so ich mußte zu Hause bleiben. Die Kleinen konnten ja – hm ... nicht mit zwei Jahren allein zu Hause sitzen, Vater und Mutter mußten ja arbeiten. Alles gut und schön – hm ..., bin ich hingegangen, hab' dem Chef Bescheid gesagt, daß ich paar Tage – hm ... nicht kommen kann. Das waren sogar zwei Chefs, der eine – hm ..., der war gemein. Der andere hat gesagt, ja, das ist okay, das ist zu machen, der zweite hat gesagt, – hm – wenn das so ist, dann sind Sie gefeuert! – Also hast du dann hm ... keine vernünftige Lehre, keine Arbeitsstelle. Überall, wo du hinkommst – hm ..., fragen sie: Haben Sie denn eine Lehre gemacht? – Ja – hm ..., ich habe eine angefangen, konnte sie aber – hm ... nicht zu Ende führen – Und Ihre Schulbildung? Ja, die – hm ... ist vom letzten. Kein Volksschulabschluß! Also sieht's im Endeffekt so aus – wenn du einmal – hm ..., da überhaupt mal wieder raus zu kommen, keine Chance!“ Mascha, froh, endlich ein dem Thema entsprechendes Schicksal vor Augen zu haben, sagt in gepflegtem Hochdeutsch: „Die Dinge, die Sie jetzt erwähnt haben, die Sie aufgezählt haben, wenn Sie sich heute daran erinnern, wo wäre da der Punkt gewesen, wo Sie sich sagen, da, das wäre eine Chance gewesen – wenn man mir da geholfen hätte, hätte ich das und das machen können?“ Die Bayrin erwidert: „Eine Chance war für mich, daß ich – hm ... die Lehre anfangen konnte. Hätte ich sie zu Ende gebracht – hm ..., dann hätte ich sagen können, hier, ich hab' eine Lehre gemacht, als Floristin, aber so – hm ... konnte ich nur sagen, ich hab' die Lehre eineinhalb Jahre gemacht, drei Jahre – hm ... wäre sie gegangen.“ Mascha fragt eindringlich: „Also in dem Moment, wo der eine Chef sagte, Sie können nach Hause gehen, und der andere, Sie sind entlassen, da hätte eingegriffen werden müssen, das wäre die Möglichkeit gewesen ...“ „Da war nichts zu machen“, sagt die Bayrin entschieden, „danach habe ich so gejobt, überall wo ich hingekommen bin – hm ..., hatte ich keine richtige Chance.“ „Und Ihre Eltern?“ fragt Mascha, „in dem Moment, so Sie Ihre Lehre abbrechen mußten, konnten da Ihre Eltern nicht ...?“ Die Bayrin sagt empört: „Was Sie sich so denken! Im Gegenteil, mein Vater – hm ... hat ja sogar – mehr oder weniger – seine Wut an mir ausgelassen – hm ..., weil er der Meinung war, daß ich alleine Schuld bin!“ Mascha resümiert: „Solche Kinder, die eine Sonderschulbildung haben, stoßen automatisch auf viele weitere Probleme ...“ Die Ausführung wird unterbrochen vom älteren Sozialarbeiter, der im Weggehen begriffen ist. Der Antiquar nutzt den unterbrochenen Faden und ruft: „Mascha! Ein Staat wird nicht danach beurteilt, wie viele Kirchen er hat, sondern danach, wie viele Gefängnisse er hat! Victor Hugo.“ Er strahlt, aber Mascha beachtet den Einwurf nicht und fährt fort: „Wir haben erfahren, daß die Chefs beide versagt haben, ebenso die Eltern. Von ihnen hätte die Frau Beistand erhalten müssen, statt dessen hat der Vater auch noch seine Wut an ihr ausgelassen, an einer Minderjährigen!“ Es entsteht ein Disput darüber, ob man hier „ungünstige Verhältnisse“ vorliegen hat oder private Defekte und persönliches Versagen.

Peter ruft entrüstet aus: „Das ist eine Machtfrage, ganz einfach. Das sind gesellschaftliche Machtfragen!“ Er hält die Hand vor den Mund, niest, und nachdem er sie wieder sinken läßt, klebt ein Streifchen grünlichen Rotzes im Schnauzer, das für den Rest der Zeit dort bleiben wird. Erstaunlicherweise ist der Mann so sympathisch, daß diese nebensächliche Tatsache kaum stört. Mascha sagt kämpferisch: „Solche Kinder benötigen statt einer Sonderschule eine Förderschulausbildung, wo sie auch die Chance hätten, anerkannt zu werden.“ – „Genau!“ ruft die Bayrin, und Mascha ist nun in ihrem Element angekommen: „Alle diese Dinge, diese Punkte sind wichtig, sie müssen gesammelt und belegt werden!“ Das stiftet Verwirrung, es wird darauf hingewiesen, daß all diese verschiedenen sozialen Mißstände den Behörden und auch der Öffentlichkeit längst bekannt sind, daß die Öffentlichkeit daran lediglich ein Verwaltungsinteresse hat. Peter ruft mit Gewerkschaftsbaß: „Ich sage Ihnen mal, wie ich die Sache sehe!“ – wird aber nicht gehört, denn Mascha ruft erregt aus: „Dann mache ich also seit 27 Jahren eine völlig falsche und idiotische Arbeit ...?“ Der Antiquar, obgleich dem damenhaften Charme sehr zugeneigt, fragt kalt: „Aber Mascha, Sie sagen es doch selbst, 27 Jahre! Und was haben Sie erreicht? Können Sie irgendwelche Erfolge nachweisen?“ „Nein, nicht direkt“, gibt Mascha widerstrebend zu, „trotzdem finde ich, allein der Versuch, den wir machen, ist der Mühe wert. Wir versuchen, von ganz verschiedenen Leuten ernst genommen zu werden. Wir müssen nach außen hin wahrgenommen werden, und wir versuchen, das alles auch zu protokollieren, und mit diesen protokollierten Fällen gehen wir dann zu den Verantwortlichen und an die Öffentlichkeit ... Wenn wir es wirklich schaffen, daß wir am 17. Oktober eine Tagung haben, dann wird es eine Arbeitsgruppe geben, die erklären kann, worin eine Bildungschance zu bestehen hätte – nicht nur im eigenen Land, die Erfahrungen sind ja ähnlich in Frankreich, in England. Gut, und das ist dann wieder ein kleiner Schritt ...“ Spätestens jetzt erhebt sich die Frage, ob sie diesen irgendwie selbstgenügsam geführten Kampf gegen die Windmühlen eigentlich um Gotteslohn absolviert, oder ob er für sie die Existenzsicherung abwirft. Etwas aus der Fasson gebracht, gibt sie zu, davon zu leben. Der entstehenden Turbulenz begegnet sie offensiv: „Wenn Sie jetzt gehen, dann finde ich das unfair! Sie müssen mir schon die Möglichkeit geben, die Dinge zu erklären. Ich finde das vollkommen richtig, daß wir mal ganz konkret an das Thema hier rangehen. Also, wenn man mich fragen würde, was sind deine ganz persönlichen Motivationen, dann würde ich erst mal sagen, es sind christliche, ethische Überzeugungen. Ich wollte unbedingt etwas tun, für die Armen. Ich bin 1947 geboren, und schon aus der Verantwortung der Geschichte heraus hatte ich immer den Gedanken, du mußt dich da engagieren, im Kampf gegen die Armut, mußt für die eintreten, die weniger Bildung haben. Ich bin zwar in recht guten, bürgerlichen Verhältnissen geboren ...“ – Der Antiquar wirft ein: „Das ist ja eine Bedingung!“ und fügt schadenfroh kichernd hinzu: „Ein Chance!“ Mascha übergeht den Antiquar und fährt vollkommen ernst fort: „Und es bot sich für mich dann die Gelegenheit, mich für die Armen zu engagieren in der ATD Vierte Welt, das ist in Frankreich heute eine große Geschichte, da arbeiten viele Leute mit, eine ziemlich bekannte Organisation, Leute von uns sind überall vertreten, in den Regionen, den Departements in Frankreich. Das ist alles auf einem christlichen Hintergrund entstanden.“ Sie erwähnt kurz wie sie ihren Mann kennenlernte in Frankreich, daß er Priester war und damals stark engagiert in einem Obdachlosenprojekt. So sei das alles gekommen. „Wir leben tatsächlich von den Spenden, mein Mann und ich, die die Menschen uns geben, weil sie sich sagen: Jawohl! Es muß Leute geben, die diese Arbeit machen. Ich versuche jetzt eben auch in Deutschland so eine Art Netzwerk aufzubauen, und diese ganze Netzwerkarbeit bestreite ich mit dem, was ich habe, was der Verein eben an Spenden hat. Das ist alles sehr bescheiden. Und auch die Erfolge sind bescheiden. Ich bin vielleicht wirklich etwas zu optimistisch – meine Kinder werfen mir das auch immer vor –, aber ...“

Der Sozialarbeiter springt ihr bei: „Wer Sozialarbeiter ist, wer Sozialarbeit macht, der muß natürlich auch eine positive Einstellung haben, weil das ja der Auftrag ist, die Dinge im Kleinen zu verändern, auch wenn es immer wieder Rückfälle gibt. Wenn wir davon überzeugt wären, wir können gar nichts verändern, gar nichts erreichen, dann können wir gleich aufhören ...“ Der Antiquar fügt hinzu: „Und arbeitslos werden!“ „Auch das“, sagt der Sozialarbeiter, „aber was zählt, sind ja auch die kleinen Erfolge.“ Mascha sagt: „Wir dürfen nicht aufhören, immer wieder an die Öffentlichkeit zu gehen mit den Problemen, die Armut geht alle an!“ Die Bayrin meint: „Ja! Man muß die Leute – hm ..., so sehe ich das, immer wieder mit der Nase drauf schubsen – auf das, was falsch ist!“ „Es ist einfach nur 'ne Machtfrage!“ ruft Peter aus, „und eine Geldfrage. Sagen Sie mir doch, was sollen die Leute tun, damit sie nicht entrechtet werden? Es werden ja nicht mal die Tarifverträge eingehalten, denen, die schon wenig haben, denen kürzt man auch noch alles kräftig.“ Der Antiquar sagt: „Und die Grauen Panther, die erreichen auch nichts. Wer draußen ist, erreicht nichts! Warum gibt's denn keine Arbeitslosen, Armen und Alten im Parlament als Vertreter?“ Bruno schlägt vor: „Man muß ins Rathaus gehen und denen Dampf machen, dann könnte man was erreichen.“ Peter entgegnet: „Die Politik wird doch nicht im Rathaus gemacht ... Also ich bin seit 40 Jahren gewerkschaftlich organisiert ... Das sind alles nur Machtfragen.“ – Antiquar und Bruno erheben sich und versuchen den Raum zu verlassen, werden aber von Mascha gebeten: „Bleiben Sie doch noch die 10 Minuten.“ Der Antiquar weicht aus: „Bruno muß weg!“ Doch Bruno sagt geradeheraus: „Ach was, das wird doch sowieso nix, das hab' ich schon von Anfang an gesehen!“ Dennoch setzen sich beide schulterzuckend wieder. Peter ergreift das Wort: „Aufklärung gut und schön, aber wie? Ich beispielsweise habe eine andere als die offizielle Meinung und die möchte ich kundtun. Wo aber, bitte, kann ich meine Meinung vertreten – außer hier im Seeling-Kurier – wie mache ich das? Wie mir das vorkommt, ist die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung nur auf dem Blatt geschrieben. In Wahrheit aber geht Pressefreiheit so, daß die Reichen da ihre Meinung vertreten lassen. Das ist Pressefreiheit bei uns und freie Meinungsäußerung.“ Bruno, der fast nie liest und wenn, dann nur die Kinoprogramme in der BZ, stimmt begeistert zu. Peter fährt fort: „Augenblicklich würde ich zu gern die russischen Zeitungen lesen ...“ Mascha unterbricht ihn: „Also jetzt mal weg von der Pressefreiheit, das ist heute nicht unser Thema, wenn Sie jetzt mal von Ihrer eigenen ... Worin würde nun eine tatsächliche Chance bestehen? Sie sagen, es kommt nicht in die Zeitung. Auch nicht in die Gewerkschaftszeitung?“ „Auch nicht, auch nicht!“ ruft Peter und setzt seine begonnene Rede fort. Er tut das bei aller Ruhe derart suggestiv, daß alle still sind und zuhören: „Die Medien unterschlagen uns die Wahrheit, das ist es ... Ich war voriges Jahr in Italien und habe also Anfang Juni mit Entsetzen festgestellt, daß in den Zeitungen große Artikel drin waren über abgereichertes Uran, daß man also 300 Tonnen in über einer Million Geschossen im Irak verschossen hat. Und da waren also seitenlange Berichte über die Folgen drin in der La Republicca und auch im Corriere della Sera. Zu Weihnachten war eine englische Delegation dort und hat also ein Kinderkrankenhaus in Bagdad besucht und berichtet über die Folgen und Erkrankungen durch das abgereicherte Uran. Wissen Sie, wie lange es gedauert hat, bis deutsche Zeitungen darüber berichtet haben? Bis heute! Und wissen Sie warum? Weil man Angst hat. Und dieses Zeug ist ja auch jetzt im Jugoslawienkrieg eingesetzt worden. Der Nato-Sprecher hat der BBC gesagt, er will es weder bestätigen noch verneinen. Und es war vorige Woche, daß ich in deutschen Zeitungen was darüber gelesen habe. Fast ein Jahr später, nachdem ich das in italienischen Zeitungen gelesen hatte, in spanischen und in englischen Zeitungen, zum Beispiel im Guardian, wo es auch ausführlich stand. Aber die deutsche Presse hat sich darüber ausgeschwiegen, das Problem existiert für uns nicht. Und jetzt also noch 'ne kuriose Sache: Vorige Woche hatte ich im El Pais also gelesen, daß zwei Indianerstämme bei der spanischen Botschaft in Bogotá nachgesucht haben um politisches Asyl, das waren zwei Stämme mit 5.000 Leuten! In der deutschen Presse waren es dann zwar nur noch 2.500, aber immerhin. Ich habe das also unter anderem in der Frankfurter Rundschau gelesen und sogar im Neuen Deutschland. Ich hab' da also sofort angerufen und habe das korrigiert, aber ich frage mich natürlich, wie ist das überhaupt mit der Information, wie ist das mit der Wahrheit?“

Mascha nutzt die winzige Atempause und fragt: „Und worin würde also Ihrer Meinung nach eine Chance bestehen, daß alle ...“ „Daß das unter die Leute gebracht wird, daß die Fakten in die Medien kommen – in die Zeitung kommen vor allen Dingen –, damit die Leute sich ein Bild ...“ Mascha insistierend: „Aber was gibt es für Chancen? Zum Beispiel für Solidarität, um, auch in einer Gewerkschaft, darüber dann auch aufzuklären?“ Peter macht eine resignierte Handbewegung und sagt: „Ich würde mal sagen, also so gut wie keine. Ich bin ja so was wie ein Spezialist für unterdrückte Nachrichten geworden, und ich beobachte das also schon lange, es ändert sich nichts. Und ich meine, daß gewisse Fakten nicht unwichtig sind, zum Beispiel wenn deutsche Textilfirmen auf den Marianen-Inseln – die liegen im Stillen Ozean und waren teilweise mal in deutschem Kolonialbesitz –, wenn da also 50.000 Arbeiterinnen ausgebeutet werden von deutschen Textilfirmen und wenn diese Frauen zusätzlich noch Rekrutierungsgebühr von 2.000 bis 7.000 Dollar bezahlen müssen, damit sie überhaupt den Arbeitsplatz bekommen. Ich meine, warum kann nicht wenigstens die Gewerkschaftszeitung solche Meldungen bringen, oder auch die taz müßte so was abdrucken, die sich ja als ,links' bezeichnet, aber es wird nicht gebracht!“ Mascha ist mitgerissen von den empörenden Schilderungen und sagt mit Verve: „Gibt es denn unter den ganzen Einrichtungen, die die Demokratie hervorgebracht hat, denn nicht eine, die die Wahrheit sagt?“ Schallendes Gelächter der Anwesenden antwortet ihr, nur die Bayrin macht ein zurecht bekümmertes Gesicht. Der Antiquar ruft: „Die Wahrheit ist vorhanden für den Weisen, die Schönheit für ein fühlend Herz – Schiller.“ Mascha versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist: „Ich möchte noch mal zurückkommen zu unserem Thema ,Chancen und Schuld'. Es muß doch eine Chance geben, für alle ...“ Um das Maß voll zu machen, wird nun auch noch eine Kaffeetasse umgestoßen. Zielstrebig fließt der braune Strom auf Maschas akribisch mit dem Füllfederhalter beschriebenes Protokoll zu, gleitet zwischen die Seiten und ruiniert einen Teil der Aufzeichnungen. Nachdem das Gröbste beseitigt ist, fährt sie tapfer fort: „Was ich meine ist, wie kann man Arbeit schaffen? Wie kann man beispielsweise aus einer Versorgung einen Job machen – wie kann eine solche Versorgung auch als Chance genutzt werden?“ Der Sozialarbeiter meldet sich zu Wort: „Das gibt es schon, möchte ich sagen, hier und da. Und ich meine, im Ansatz versuchen wir ja auch unsere Beiträge zu leisten, bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse. Gerade bei Leuten mit schlechten Chancen ...“ – „Ja“, sagt Mascha dankbar, „auch wenn es nur kleine Schritte sind, wir müssen daran arbeiten, an der Verwirklichung der Grundrechte, an der Verwirklichung der Menschenrechte ...“

Peter hebt beim Stichwort Menschenrechte die Hand und sagt: „Ich meine also, daß die Menschenrechte nicht sehr ernst genommen werden, wenn ich mir beispielsweise anschaue, daß der Diktator Pinochet in London zum Kaffeekränzchen eingeladen wird, daß der britische Steuerzahler pro Woche 70.000 Pfund zahlen darf, damit der Diktator ein Luxusleben führen kann, so wie er es gewohnt ist – der lebt also in einem Landhaus, lebt herrlich und in Freuden –, dann ist das für mich unverständlich und also bestimmt keine Verteidigung der Menschenrechte! Und soweit man das sehen kann, wird der Pinochet nie einer Strafe zugeführt werden. Das sind alles Tatsachen ...“ Die Zeit ist abgelaufen, und es entsteht ein hektisches Durcheinander, Stühlerükken und Stimmengewirr. Bruno sagt: „Hab' ich es nicht gleich gesagt, daß da nichts draus wird?“ Der Antiquar eilt wortlos durch die Tür ins Freie, noch bevor Mascha ihren Dank an alle Beteiligten ausgesprochen hat.

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