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Nehmen, was andere wegwerfen

Von 600 Mark im Monat und Müll leben die Kommunarden der Sozialistischen Selbsthilfe Köln-Mülheim. Das klappt so gut, daß sie glauben, auch ein ganzer Stadtteil könnte so leben. Wie Packer zu Stadtsoziologen werden  ■   Von Hannes Koch

Die Panik des Heimwerkers: Zur Schraube fehlt der passende Dübel. Michael Birkenbeul blickt verdrießlich in den Handwerkskasten. Wer fährt nun zum Baumarkt?

Michael Birkenbeul und seine fünf Mitarbeiter bauen in einer Sozialwohnung im Kölner Stadtteil Mülheim eine Küche ein. Mit Aufträgen wie diesem verdienen sie ihren Lebensunterhalt. Mit Umzügen, Entrümpelungen, Renovierungen. Nur einer aus der Kolonne besitzt einen Führerschein. Und der ist Küchenaufbau-Spezialist, also gerade unabkömmlich.

Später kann Michael Birkenbeul nicht helfen, Schlafzimmerschränke zu schleppen. Er hat noch einen Termin: StudentInnen wollen sich von ihm über die Stadtplanungsmethode „Planning for real“ aufklären lassen. Was soll das sein? Die Baukolonne läßt die Küche Küche sein, setzt sich erst einmal hin und lauscht ihrem Vordenker. Der ist 51 Jahre, besitzt einen beachtlichen Bauch, früher war er Koch in noblen Restaurants und der besetzten Kölner Stollwerk-Fabrik. Nun, die Brille auf der Nase, hat Michael Birkenbeul sich vom Packer zum Stadtsoziologen gewandelt und spricht über seine Vorstellungen von Politik, Ökonomie und Sanierung.

Die Packer gehören zur Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM). Chaos herrscht hier nicht, aber eine gewisse Spontaneität. Zehn Erwachsene und fünf Kinder leben in der Wohn- und Arbeitskommune auf der „scheel Sick“, dem „schlechten“, rechten Rheinufer, gegenüber vom Zentrum mit Dom. Morgens ab 10 Uhr ist Vollversammlung zwischen den vergilbten Wänden des Büros: Zu klären gilt, wer den klapprigen Umzugswagen steuert, wer Dübel besorgt, wer das Mittagessen kocht, das immer alle teilen, wer Politik macht und wer „Verantwortung“ trägt, wie Büro- und Telefondienst hier heißen.

Der Umzugsauftrag ist erledigt. Kurz nach sechs, pünktlich zum Feierabend, hängt der Küchenschrank, die Arbeitsplatte mit Spüle steht, der Herd ist angeschlossen. Und auch vom Mittagessen, das die Küchenbauer verpaßt haben, steht noch etwas auf dem großen Tisch im Büro der Kommune.

Das Experiment des selbstorganisierten Arbeitens funktioniert. Manchmal leidlich, manchmal gut: Die Selbsthilfe ist inzwischen in Mülheim bekannt, weil sie von Kunde zu Kunde weiterempfohlen wird. Nun wollen die Kommunarden ihr Experiment auf einen ganzen Stadtteil ausweiten – in Zusammenarbeit mit etwa 30 Initiativen. Noch schlummert der Ort, den sie sich ausgeguckt haben, zwischen rostigen Schienensträngen, Holunderbüschen und Bauschutthalden. Den ehemaligen Güterbahnhof mit 15 Hektar Fläche braucht die Bahn nicht mehr. Hier könnte eines der größten alternativen Arbeitsprojekte der Republik heranwachsen. Könnte.

Michael Birkenbeul ist ein umtriebiger Mann. Gern erzählt der Kommunarde, daß er als Juso-Vorsitzender das Landtagsmandat der SPD schon in der Tasche gehabt hätte, dann jedoch lieber ausgestiegen sei. Ranne Michels, 50 Jahre und einzige weibliche Erwachsene im Kollektiv, warnt: „Alle neuen Projekte finden wir unwahrscheinlich interessant. Dabei stoßen wir oft an unsere Grenzen“ – an Grenzen der eigenen Belastbarkeit, an Grenzen des politischen Willens.

Als Größenwahn erschien es vielen, als die Sozialistische Selbsthilfe vor 20 Jahren versuchte, sich in Mülheim eine Existenz aufzubauen. Mittlerweile jedoch residiert die Gemeinschaft auf dem Gelände einer früheren Schnapsbrennerei, mit idyllischem Garten keine 100 Meter vom Rheinufer entfernt, einem Ort luxuriöser Ruhe und großzügigen Raums inmitten der Großstadt.

Hier würde auch so mancher Normalbürger gerne wohnen. Weniger Neid erweckt dagegen die Lebensweise, die die SozialistInnen praktizieren: Sie nehmen, was andere wegwerfen. Die frühere Arzthelferin Ranne Michels trägt heute eine blaue Cordjeans mit passendem Sweatshirt, dazu einen grauen Schal. Alles kostenlos, die Sachen stammen aus einer Entrümpelung.

Seine schwarze Lederweste fiel bei einer Haushaltsauflösung in Bergisch-Gladbach ab, wie Michael Birkenbeul sich „genau erinnern“ kann. Unten ist eine Naht ausgerissen, der Glanz des Leders etwas verblichen – aber wie Stöberer auf Müllhalden sehen die Kollektivisten nicht aus. Ihr Entsorgungsjob liefert ihnen alles: von den beiden Hifi-Anlagen in Ranne Michels Wohnung über Waschmaschine, Spülautomat bis zum Bett. Fast alles ist gefunden, beinahe nichts gekauft – ein billiges Leben in einer reichen Gesellschaft, die soviel als „nutzlos“ ausstößt, daß damit prima auskommen kann, wer ohne die neueste Mode leben kann. „Hier kommt alles rein“, sagt Ranne Michels, „einmal entdeckten wir orangefarbene Bettwäsche mit Palmen. Zwei Tage später fanden sich auch die Kissenbezüge.“

Zur Selbsthilfe kamen Ranne Michels und Michael Birkenbeul als Flüchtlinge. Als Flüchtlinge aus einem Arbeitsleben, das ihnen die Luft abschnürte, wie sie sagen. „Als Koch fand mein Leben nur in der Kneipe statt“, sagt Michael Birkenbeul vor seiner Fabrik in der Sonne. Lange Nächte, lange schlafen, wieder in die Küche. Muße gab es keine. Die können sich die KollektivistInnen nun nehmen, wann sie wollen – für den Preis, wenig zu besitzen.

Was die BewohnerInnen freiwillige Askese nennen, ließe sich selbst bei gutem Willen nur schwer abschaffen. Der Betrieb im Besitze aller Mitglieder liefert zwar Kleidung und Einrichtung in Hülle und Fülle, kann aber nur 600 Mark pro Monat und Kopf in Bargeld ausschütten. Mal eben locker am Dom shoppen, das geht nicht. „Wenn ich schwach werde, kaufe ich für fünf Mark ein T-Shirt“, sagt Ranne Michels. Und auch das geht nur, weil die Stadt für das früher besetzte und selbstrenovierte Gebäude keine Miete verlangt. Die Zukunft? Eine Rente auf Sozialhilfeniveau.

„Eigenarbeit statt Lohnarbeit“, möglichst viel selbst machen, im eigenen Haus Hand anlegen, damit weniger Einnahmen aus externen Jobs nötig sind, von denen es sowieso zu wenige gibt. Die 15 Kommunarden praktizieren eine Art vorkapitalistischer Ökonomie, die an die Subsistenzproduktion, an das Von-der-Hand-in-den-Mund des Mittelalters erinnert. Was bisher eine spinnerte Nischenidee war, wird in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit plötzlich als ernstzunehmende Alternative zum normalen Arbeitsprozeß gehandelt. Das „Haus der Eigenarbeit“ etwa in München. Hochgelobtes Projekt, das die Stadt München mit mehr als 200.000 Mark jährlich finanziert. Oder Frithjof Bergmann, Professor aus den USA. Er hatte in den 80er Jahren in Michigan ein Fortbildungszentrum gegründet. Dort schulten sich von Kündigung bedrohte General-Motors-Arbeiter in hightech-selfproviding, in hochtechnisierter Eigenarbeit. Heute engagieren ihn Münchner Großbanken und der Autokonzern Ford als Berater.

„Eigenarbeit statt Lohnarbeit“ – dadurch soll sich die geplante Wiederbelebung des Güterbahnhofs von herkömmlicher Stadtsanierung unterscheiden. „Durch die Stadterneuerung in Mülheim sind jede Menge Arbeitsplätze verlorengegangen“, sagt Michael Birkenbeul. Und verschweigt, daß zuerst die alten Fabriken in dem früheren Industrierevier zumachten und dann die StadtplanerInnen kamen und neue Wohnquartiere auf den Brachen anlegten. Richtig aber ist, daß sie die Jobs vergaßen, von denen die BewohnerInnen hätten leben können.

Das wollen die „Bürgerdienste Mülheim“, der Zusammenschluß der Initiativen, auf dem Güterbahnhof in Zukunft ändern. Da soll ein Gesundheitszentrum entstehen, in dem NachbarInnen die Pflege alter Menschen mitübernehmen, erzählt die Aktivistin Jacqueline Crawford, die die Initiativen koordiniert. Da wird ein Baurecyclinghof geplant, der einen Teil des Materials bereitstellt, das die späteren BewohnerInnen brauchen, um ihre Häuser selbst zu errichten. Da sollen Gemeinschaftsgärten einen Teil der Lebensmittel liefern, die man sonst teuer kaufen müßte. Michael Birkenbeul schätzt die Zahl der neuen Arbeitsmöglichkeiten auf locker 300. Er ist ein optimistischer Mann.

Andreas von Wolff, Abteilungsleiter beim Kölner Amt für Stadterneuerung, ist nicht so optimistisch. „Zwischen Traum und Wirklichkeit klafft mitunter eine Lücke“, sagt von Wolff. Noch sei überhaupt nicht klar, was die Bahn mit ihrem Gelände vorhabe, und keiner wisse, woher die Bürgerdienste das Geld nehmen wollten, das für einen neuen Stadtteil notwendig sei. Kommt die Sprache auf diesen heiklen Punkt, erklären die Initiativen stets, daß man eine Genossenschaft gründen, Mülheimer Geschäftsleute als Mitglieder gewinnen und so den Kauf der Immobilie wenigstens teilweise privat finanzieren wolle.

Dann wird Amtmann von Wolff doch ein wenig optimistisch. Wenn die Bahn ihre Immobilie herausrücke und sein Amt den politischen Auftrag zur Bauplanung erhalte, sagt er, dann könnten sich die Initiativen „finanziell, organisatorisch und konzeptionell vorbereiten, um Partner der Projektentwicklung zu werden“. Ein Grundstück irgendwo in dem neuen Stadtteil für ein Projekt hält er denkbar.

Die Kölner Industrie- und Handelskammer hat das Leben der „Anarchosyndikalisten und Lebenskünstler“ von SSM kürzlich in einem Artikel ihres Hausblattes besprochen – und nicht einmal unfreundlich. Alles, was nach freiem Unternehmertum aussieht, findet erst einmal Gefallen. Daß auch selbstorganisierte Arbeit harte Arbeit ist, daß sie nicht unbedingt jeden zum Mittun einlädt und nur schwer als Gesamtmodell für einen neuen Stadtteil dienen kann, wissen auch die KommunardInnen von der Sozialistischen Selbsthilfe. „Ein Umzug in die vierte Etage – da ist nichts Schönes dran“, sagt Michael Birkenbeul.

Mit Rücksicht auf ihr fortgeschrittenes Alter und ihre Rückenwirbel verlagern die KollektivistInnen ihre Aktivitäten. Mehr Einnahmen soll nun der Laden bringen. Dort stehen schwere Eichenschränke, die auf eine betuchtere Kundschaft warten, Tresore, Ehebetten und ein ganzes Sortiment Couchgarnituren. Sorgsam haben die Trödler entrümpelte Pretiosen in Glasvitrinen angeordnet: Amulette, Silberringe, Manschettenknöpfe. Schlafanzüge gibt es ab drei, Bettwäsche ab sieben Mark.

Nur die Verkaufsstrategie macht noch Probleme. Am Samstag sei der Laden nicht geöffnet gewesen, heißt es bei der morgendlichen Kollektivsitzung. Der eine hatte Besuch, die anderen machten Besorgungen. Fast ein Dutzend Kaufinteressierte seien erschienen, hätten aber unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen, beklagt Ranne Michels. Das drückt auf den Erlös.

Ein Modell für ein riesiges Gelände, einen ganzen Stadtteil mit Hunderten, wenn nicht Tausenden neuer BewohnerInnen? Michael Birkenbeul zieht es in eine Ecke seines wildwuchernden Gartens. Dort wächst noch immer das „Naturdenkmal“, mit dem die Geschichte der Sozialistischen Selbsthilfe begann. Mit Tricks gelang es den AktivistInnen vor 20 Jahren, den Baum von der Naturschutzbehörde unter Schutz stellen zu lassen. Das verhinderte schließlich, daß heute nicht auch auf dem Gelände der Schnapsbrennerei die verklinkerten Wohnblocks der Nachbarschaft stehen.

Mit der Verwaltung und der lokalen Politik kennt Michael Birkenbeul sich aus, sagt er. Und das gibt ihm die Zuversicht, in ein paar Jahren wieder einmal seine Träume verwirklichen zu können. Dann auf dem einstigen Güterbahnhof.

Zur Selbsthilfe kamen Ranne Michels und Michael Birkenbeul als Flüchtlinge. Als Flüchtlinge aus einem Arbeitsleben, das ihnen die Luft abschnürte.

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