Die schwarze Versuchung aus den dicken Gläsern

■ Kadó – der Lakritzladen in Kreuzberg verkauft multikulturelle schwarze Kaumasse

Es ist vollbracht, die hundertste Sorte Lakritz füllt die Regale des „Kadó-Ladens“ in Kreuzberg. Neben glänzenden Muscheln, kleinen schwarzen Perlen, Sternen, Talern, zuckerbestäubten Stäbchen und minzigen Pastillen füllen jetzt also auch die „Pfefferfische“ die großen Gläser. Die zahlreichen Lakritzjunkies Berlins haben eine Droge mehr für ihre Sucht.

Für Ilse Böge bedeutet der Verkauf der schwarzen Kaumasse aber nicht nur wegen der extremen Lakritzlosigkeit in der Stadt ein Geschäft. Seit September 1997 verkauft sie in der Graefestraße zahlreiche Lakritzspezialitäten aus aller Herren Länder. „Berlin soll einfach bunter und europäischer werden, und dazu kann auch Lakritz aus den Niederlanden, aus Italien, Dänemark und Finnland seinen Teil beitragen“, erzählt die gebürtige Emdenerin.

Auf ihren Reisen zu den Originalherstellern hat Böge echte Raritäten aufgetrieben: schmucke Dosen mit Salmiakpulver, Lakritzpfeifen, „Türkisch Pfeffer“ (Lakritzbonbons mit einer scharfen Salmiakfüllung) und sogar Naturlakritz aus Kasachstan. Bei „Amarelli“, einem alten Familienbetrieb in Italien, konnte sie bei der Lakritzherstellung zuschauen und weiß jetzt einiges über die Wissenschaft des „Süßholzraspelns“ zu berichten: Aus einem großen schwarzen Klotz und einem wirren, vertrocknet aussehenden Gestrüpp, der originalen Süßholzwurzel, werden zuerst kleine Teile hergestellt. Dann folgt eine lange Prozedur des Walkens und Kochens, bis zum Schluß die ganze Masse auf Bleche gegossen wird. Der in der Süßholzwurzel vorhandene Kohlenstoff sorgt für die schwarze Farbe. Je weicher das Lakritz sein soll, um so mehr Gummiarabikum muß hinzugefügt werden. Das Harz des Akazienbaums sorgt für die richtige samtige Konsistenz. Für den schimmernden Glanz kommt noch Bienenwachs dazu, und schon hat man den besagten schwarzen Klotz aus Naturlakritzextrakt.

Mit der „schwarzen Versuchung“ ist es fast wie mit Wein oder Schokolade. Sie gleitet in den Mund und entfaltet dabei ihren Geschmack. Veilchen, Bergamotte, Anis oder Minze sind nur einige Aromen, die deutlich herauszuschmecken sind. Abgerundet wird der Genuß mit Karamel-, Schokolade- oder Fruchtextraktfüllungen.

Bei ihren historischen Nachforschungen erfuhr Böge, daß Süßholz vor 600 Jahren aus südlichen Ländern auf abenteuerlichen Wegen gen Norden geschmuggelt wurde. Sie stieß auch auf eine Schrift aus dem 16. Jahrhundert, die Aufschluß über die wichtige Bedeutung des Lakritzes für die mittelalterliche Heilkunst gibt. Zu jener Zeit wurde „Bärendreck“, wie Lakritz damals genannt wurde, als medizinisches Allheilmittel eingesetzt. Der „hitzige Magen“ wurde genauso damit kuriert wie „rauhe Kälte in der Kehle“, „Seitenweh“ oder Impotenz.

Auch wenn das Lakritzgeschäft Ilse Böge bisher noch keine Reichtümer beschert hat, so ist sie doch zufrieden, daß sie ihren Traum wahr gemacht hat. „Ich habe schon eine Menge Stammkundschaft gewinnen können, und es spricht sich immer mehr herum, daß es ,Kadó‘ gibt. Natürlich ist die Lust auf Lakritz auch jahreszeitenabhängig. Im Sommer haben die Leute weniger Halsweh und wollen lieber Eis essen. Die richtigen Lakritzfans lassen sich aber zum Glück von den sommerlichen Temperaturen nicht abhalten.“

Katharina Sieckmann