Im 3-D-Raum der Phantasie

■ Das Kandinsky-Projekt „violett - wass kann dinsky?“ im Theater im Mauerpark

Ginge es nach der Kunst der Moderne, müßte man die sogenannte Postmoderne (ciao, bella) durch den Geschichtshäcksler jagen, um sich mit den (guten) alten Absichten noch mal gründlich zu beschäftigen. Das provozierende Potential der Avantgarde mag verschlissen sein, seine bildnerischen und vor allem denkerischen Ansätze sind ungebrochen lebendig und verlangen nach Überprüfung, Interpretation und Aufführung.

Ein Verdienst der 80er- und 90er-Jahre-Kunst ist es gewesen, eine ganze Generation endgültig aus der Ehrfurchtsstarre vor großer Kunst zu befreien. Gleichzeitig wurde ein projektorientiertes, spartenübergreifende und multimediales Arbeiten zum Normalfall. Es ist kein Geheimnis, daß Musiker, Performer, sogar bildende Künstler sich mit dieser netzwerkartigen Arbeitsweise leichter tun als das angestammte Theaterpersonal, wo Schauspieler immer noch auf die ultimative Regieanweisung warten. Das ist bedauerlich und könnte ein Hauptgrund sein, daß das Theater als Ort sozialer Erfahrung so ins Abseits geriet. Dummerweise ist dem Theater auch noch der geistige Anschluß an das, was Kunst in der Gesellschaft will und soll, längst verlorengegangen; so treffen sich alle Künste fröhlich wieder zum postpostmodernen Katerfrühstück.

Der Erfinder der abstrakten Malerei, Wassily Kandinsky, wußte genau, was er wollte. Er war von der „inneren Notwendigkeit“ als Antriebskraft des Künstlers ebenso überzeugt wie davon, daß es letztlich um Erkenntnis geht. In seiner zentralen Schrift, „Über das Geistige in der Kunst“, fordert er den Künstler als Schöpfer, der die „inneren Vibrationen“ der Seele zum Ausdruck bringt.

Der Witz, schon damals, liegt darin, daß er diese Suche nach etwas Heiligem mit Hilfe abstrakter Farb- und Formgebilde betrieben hat. Verwirrende Unverständlichkeit und höchste geistige Ansprüche gehen dabei Hand in Hand. Das Vieltalent Kandinsky erprobte seine Ideen am Theater, indem er Bühnenkompositionen entwarf.

Darin beschrieb er den Übergang vom illustrierten Sprechakt zu einem eigenständigen Bilder- und Objekttheater. Der Werkstattbereich „Spiel und Bühne“ der HdK beschäftigte sich schon früher mit den Bühnenstücken von Kandinsky. Bereits 1987 kamen zwei seiner Werke zur Aufführung. Der damalige Student und heutige Werkstattleiter David Reuter hat als Abschluß seiner persönlichen Kandinsky-Forschung ein aufwendiges, interdisziplinäres Projekt initiiert, um die Farboper „Violett“ aufzuführen.

Über 50 Mitwirkende haben aus sichtbar vielen, oft phantastischen Einzelideen ein surreales Bilderspektakel zusammengefügt, das den Kandinsky-Stoff in den nächtlichen sozialen Raum Mauerpark transportiert. Das Publikum befindet sich in einem Zelt, in dessen Innerem sich Spielszenen, Musik und Videoprojektionen abwechseln. Dann öffnen sich die Zeltwände und geben den Blick auf das nächtliche Treiben frei. Zufällig vorbeikommende Radfahrer und weitläufig inszenierte Spiele mit bizarren Objekten bilden ein Gemisch aus sozialer Plastik, Happening und dadaistischer Kostümshow. Den Zusammenhang zwischen den Bildern muß man sich hartnäckig selbst erschließen, was angesichts einiger ermüdender Längen nicht immer leichtfällt. Die Detailfreude und ein überschäumendes Reservoir an spielerischen Einfällen versöhnen aber mit diesem Mangel.

Wenn sich blaue Gestalten prozessionsartig durch den Hügel bewegen, weiter oben ein Reiter ins Mondlicht schaukelt, große Seifenblasen über den Rasen treiben, wo gemüseähnliche Stelzenläufer marschieren und ein paar Bläser eine schräge Version der Internationale spielen, ist man schließlich angekommen im geistigen 3-D-Raum der Phantasie. „Geht's Euch denn noch gut?“ ruft einer der nächtlichen Parkbewohner herüber. Ja, doch, irgendwie ziemlich okay. Felix Herbst

„violett – wass kann dinsky?“, Theater im Mauerpark, Prenzlauer Berg, bis 1. 8. sowie 5. bis 8. 8., jeweils 22 Uhr. Sa. im Anschluß an die Aufführung Disko: „kann dinsky tanzen?“