Eine Dosis Reinheit

■ Wieder verbreiteten Jan Garbarek & das Hilliard Ensem-ble in Oldenburg sakrale Stimmung, aber neu verpackt

Haben Sie schon einmal Hunderte von Menschen vor einer Kirche Schlange stehen sehen? Genau dieses heutzutage schon fast absurde Bild gab es Samstag abends vor der St. Lamberti-Kirche in Oldenburg zu bewundern. Und natürlich nicht wegen einer besonders guten Predigt. Sakrale Stimmung gab's schon, aber eher zum kulinarischen Genuß als zur Vertiefung des Glaubens. Die Sehnsucht nach einer sauberen, meditativen und schönen Musik hat die Kirche gefüllt: Jan Garbarek & das Hilliard Ensemble spielten ihre immens erfolgreiche Mischung aus christlich reinem Männergesang und elegischem Saxophon.

Und der überraschend prunkvoll wirkende Kuppelbau bot das ideale Ambiete für dies Konzert. Er eignete sich zum Beispiel viel besser dafür als der Bremer Dom, in dem Garbarek & Hilliards am 26. Oktober nach vier Jahren wieder spielen werden. Hier war es viel heller, es hallte nicht so schlimm wie in den Bremer Kirchenschiffen und fast jeder konnte gut sehen (im Dom haben mehr als die Hälfte der ZuhörerInnen mindestens eine dicke Domsäule vor der Nase).

Der Oldenburger Veranstalter war zwar etwas unberaten, als er auf seine Plakate „Jan Garbarek und sein (!) Hilliard Ensemble“ drucken ließ, aber ein Fünkchen Wahrheit findet sich auch in diesem Faux pas: Im Gegensatz zum ersten Programm des Projekts „Officium“, das auf alten lateinischen Betgesängen basierte, gab es bei diesem Konzert viel freiere, weltlichere Musik zu hören, und dabei haben sich die vier Vokalisten eindeutig auf den Jazzer Garbarek zubewegt und nicht umgekehrt. Das Grundrezept war das gleiche geblieben: Die vier britischen Vokalisten sangen mit einem makelosen Ton und klassischer Vokaltechnik, und Garbarek lieferte mit schwerelosen Improvisationen auf dem Saxophon den Kontrapunkt. Aber jetzt waren viele freie Stücke im Programm, in denen offensichtlich auch die Sänger über kleinen Themen oder durchgängigen Stimmungen improvisierten, einmal lieferte Garbarek dazu mit einem rhythmischen Puffen auf dem Tenorsaxophon nur die Begleitung, und als einer der Sänger gar mit den Füßen leise „Tip, Tap“ steppte, drohte die Stimmung endgültig in säkulare Ausgelassenheit umzuschlagen. Zudem sangen die vier Briten noch in schönstem Englisch eine Herz-Schmerz-Ballade voller „True love“ und „Remember my pain“. Garbarek und die Hilliards haben sich von ihren Mönchsgesängen freigespielt.

Aber trotz dieser Stilmischungen blieb die Grundstimmung die Altgewohnte, und so wurde das treue Publikum (die Kirche war natürlich ausverkauft) nicht verprellt. Der Kontratenor sang so hoch und rein, wie es für Männer gerade noch so ohne peinliche Operation möglich ist; mindestens einer der Sänger beherrscht die orientalische Obertontechnik, sodass die kunstvollen mehrstimmigen Koloraturen oft noch durch merkwürdige Toneffekte bereichert wurden. Garbarek zog alle Register seiner fulminanten Technik. Mal unterstützte er den Gesang mit asketischem Ton, mal schrie er schrill dazwischen, um sich dann wieder in rapsodische Soli zu verlieren.

Den fünf Musikern war es ein leichtes, die Kirche ohne Verstärker mit ihrem Klang zu füllen, und einige Stücke führten sie vor, während sie unter der Kuppel umhergingen – so schufen sie nicht nur einen akustischen, sondern auch einen theatralen Effekt. Nach 80 Minuten konzentrierten Wohlklangs war es dann aber auch gut, und nach dem Konzert war man fast dankbar für etwas Kindergeschrei und Straßenlärm. Auch vom Schönen kann man genug bekommen. Aber Garbarek & Hilliard kommen ja erst im Oktober nach Bremen, und bis dahin ist wohl wieder eine Dosis fällig. Wilfried Hippen